Der Plan der Werwölfe

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Amy:

Ich meine... jeder hat doch noch diese Bilder im Kopf! Die brennenden Türme, Menschen, die aus Bürofenstern in den Tod stürzen. Wie diese hohen Gebäude in sich zusammensacken in einer riesigen Wolke aus Asche und Staub, der die ganze Stadt verdunkelt... Auch wenn das weit weg war über den Atlantik, sind alle wie betäubt herumgelaufen, haben wildfremde Menschen auf der Straße miteinander die neusten Horrormeldungen ausgetauscht. Der Gurken ist nicht das World Trade Center, aber er ist 180 Meter hoch. Wie viele Leute arbeiten auf den 40 Stockwerken? Natürlich ist er eine Ausgeburt der hässlichen modernen Architektur. Wer will, kann ihn als Schwanzvergleich der geldgierigen schweizer Banker deuten. Und vielleicht ist er auch ein Symbol der Macht der Technokratie. Aber ein zweiter 11. September mitten in London? Da würden vor allem nur wieder Hunderte unschuldiger Menschen sterben, die einfach nur jeden Tag zur Arbeit latschen und ihren Job machen, um die Familie zu ernähren. Wer kann das ernsthaft wollen?

Spinner, Idioten, Schwafler! Ich hab ja schon von Cassie so ein paar Geschichten gehört, was sich so in der Kommune rumtreibt. Deshalb wollte ich erst mal unauffällig nachschauen, ob es der Lagerfeuer-Gesellschaft wirklich ernst ist mit diesem Plan. Das Großmaul vorweg, Pete, war irgendwie zu vernagelt oder ich zu aufgeregt, um was mit seinen Gedanken anfangen zu können. Dann versuchte ich es bei diesem blonden Mädel, Sarah - da flog schon ihre Bierflasche dicht an meinem Kopf vorbei, gefolgt von der Drohung: "Beim nächsten Mal treffe ich!" Alle schauen überrascht, da meint Sarah nur: "Sie hat angefangen." Ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen: "Ich wollte nur mal nachschauen, ob ihr noch einen Rest Verstand in euren Schädeln habt!" Wenn ich früher gewusst hätte, dass Sarah eine Werwölfin ist, wäre ich vielleicht etwas vorsichtiger gewesen. Oder auch nicht. Ich war so wütend!

Und was mich fast noch wütender macht ist die Tatsache, wie ruhig die Magier später bei der Krisensitzung abgewogen haben, ob man die Werwolf-Gruppe und ihre menschlichen Schoßhündchen nicht einfach machen lassen sollte. Wenn es doch hilft, das "Gleichgewicht" in der Stadt wieder herzustellen. Es stimmt, dass Lakashim, der Welten-Herzschlag, nicht mit dem übereinstimmen muss, was wir Menschen als "gut" empfinden - aber ich werde niemals diese zynische Rechnung akzeptieren, dass man einfach noch ein paar Leute der Gegenseite umbringen muss. Vor allem, wenn sie gar nicht zur Gegenseite gehören. Kollateralschaden - verdammte, arrogante Magier! Es macht mir Angst, wenn meine "eigenen" Leute so menschenverachtend sind. Und wer weiß, wie die Technokratie reagieren wird? Sie sind am längeren Hebel... Das war auch das einzige Argument, das letztlich alle Magier der Krisensitzung (Circle und Society) überzeugt hat: Dass die Rache die Falschen treffen könnte. Also arabisch aussehende Leute wie zufälligerweise einige der teilnehmenden Mitglieder. Schließlich haben wir zwei Arbeitsgruppen gebildet (meine Güte, ich bin in der Politik gelandet!): Die eine mit Cassie und Fjuna versucht, mit den Werwölfen über eine friedlichere Lösung zu verhandeln, nämlich das Abbild des Gurken im Umbra zu zerstören. In der Realität hätte das z.B. die Folge, dass die Bank pleite geht und das Gebäude aufgibt und wir es in einen riesigen Indoor-Garten verwandeln könnten oder so was. Das ist erstens schwerer und zweitens nicht so offensichtlich ruhmreich, deshalb braucht es etwas, die Werwölfe davon zu überzeugen. Ich halte mich da raus, ich bin offenbar nicht diplomatisch genug und hab Sarah schon verärgert. In der zweiten Gruppe war ich besser aufgehoben, die ausarbeiten sollte, wie wir als Magier die Werwölfe in der Realität unterstützen könnten. Mein Vorschlag, ein Gala-Konzert für die Banker zu geben, kam gut an. Wir werden versuchen, sie davon zu überzeugen, dass ein solches Machtsymbol wie der Gurken nicht zur Wirtschaftskrise passt und sie lieber Bescheidenheit demonstrieren sollten. Kann sein, dass wir ein paar Leute arbeitslos machen - aber das ist besser als zu sterben. Und ich muss Cem ein wenig beeinflussen, damit er sich nicht wundert, dass ich so etwas Kommerzielles machen will. Das tut mir leid...

Warum ich mich da überhaupt reinhänge? Meine Güte, wie könnte ich nicht? Wenn es darum geht, ein paar hundert Leben zu retten, muss ich alles in meiner Macht stehende tun, um zu helfen. Das Miss Marple-Trio hat ja auch schon Vorarbeit geleistet: Erst mal haben wir ein Picknick mit Musik vor Petes Fenster gemacht. Meine Güte, der Kopf des Mannes ist eine Schlangengrube! Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es eine reale Erinnerung oder ein Traum war, dass sie mit Gewehren Jagd auf die Angestellten eines "Hühner-KZ" - also Legebatterie - gemacht haben, aber allein der Wunsch... Außerdem bin ich in einem feuchten Traum über Sarah gelandet und der Höhepunkt hat mich auch rauskatapultiert - zum Glück, brrrrr! Fjuna glaubt ja immer an das Gute im Menschen, aber den Fanatiker wird sie nicht umstimmen können! Cassie gegenüber hat er behauptet, sie drehen nur einen Film, und sie könnte die Internetbotschaft machen. Der dreiste Kerl, damit sie dann erwischt wird! Peters Zimmer zu durchsuchen, war nicht so erfolgreich. Vielleicht waren es die Flecken auf dem Bettlaken und die Erinnerung an den Besuch in seinem Hirn, aber ich konnte aus den Bildern nicht schlau werden. Den Dienstag habe ich dann im St. John's verbracht und Kräfte getankt und Dank einiger Haare Petes Bewegungen verfolgt - Job als Wohnungsstreicher, Mathe lernen. Schade, dass ich kein Publikum hatte und dass nichts Interessanteres bei rumkam - ich war verdammt gut. So ein Tag, an dem ich endlich mal dem nahe komme, wie ich immer habe spielen wollen. Wenn es mir doch nur auf dem Gala-Konzert auch so gut gelingt! Wenn wir es nur schaffen, die Werwölfe von ihrem mörderischen Plan abzubringen!



Cassie:

Als wir in der Gärtnerei ankommen, ist alles dunkel. Nur am Lagerfeuer sitzen noch ein paar Leute. Amy und Finni befördern unseren Captain unauffällig an dem Grüppchen vorbei, während ich zu ihnen rübergehe. Hey, Fred ist auch hier. Einer von den Lagerfeuerphilosophen fängt gerade an, ihn anzugehen und einen Feigling zu nennen. Na das wird er sich bestimmt nicht gefallen lassen. Schneller als ich gucken kann, hat Fred mich schon mit einem „Die gehört auch dazu“ (Äh … wozu jetzt genau?) ins Gespräch gezogen. Und dann erfahre ich endlich, worum sich die Diskussion überhaupt dreht:
Die wollen die Londoner Schweizer Bank in die Luft jagen. Fred soll mitmachen, will aber nicht. Mir wird jetzt auch angeboten, ich könne mich ja beteiligen.
???
Was ist denn das für ein Blödsinn? Wieviel haben die denn heute schon gesoffen? Pete und Glen und Petes Flamme Sarah – ahja, schon klar. Dass die Jungs gerne viel und reichlich krudes Zeug reden, wenn der Tag lang ist, das ist ja nichts Neues. Und genug Bierflaschen liegen hier ja auch herum. Ich glaub ihnen kein Wort, bis sie selber und sogar Fred bestätigen, dass die Aktion völlig ernst gemeint sei.
Das haut mich echt von den Socken! Wie kann Fred so ruhig herumsitzen neben Leuten, die ganz offensichtlich einen totalen Schuß haben? Mit was für Chaoten wohne ich hier eigentlich Haus an Haus? Pete erzählt irgendwas von einem Symbol, das man zerstören müsse, und dass man mit Gewalt ein Zeichen setzen muß, damit sich überhaupt etwas auf der Welt ändert.
Ja klar doch, indem ihr ein Hochhaus zerlegt, ein paar hundert Leute dabei zerfetzt und den nächsten weltweiten Anti-Terror-Einsatz auslöst? Ich sag ihm, dass sie diesen Schwachsinn lassen sollen, dass das so hier in dieser Kommune nicht läuft. Interessiert ihn gar nicht. Statt dessen fängt er an, aufzurechnen, wer von uns beiden hier die längere Ahnenreihe und die älteren Rechte hat. Als ob das irgendwas mit dem Problem zu tun hätte. Männer!
Finni und Amy stoßen zu uns und erfahren, was hier gerade geplant wird. Finni ist platt. Als einzige von uns hat sie schon mal in einem Krieg gekämpft, wenns auch in der Geisterwelt war. Amy sieht mindestens genauso entsetzt und aufgebracht aus wie ich mich gerade fühle. Sie legt sich auch prompt mit Petes Freundin an und bekommt fast noch eine Bierflasche an den Kopf dabei. Ich bin nahe dran, am nächsten Morgen eine außerplanmäßige Kommune-Sitzung auszurufen und gewisse Leute aus der Gärtnerei werfen zu lassen.
Bevor es noch weiter eskaliert, fährt Amy lieber nach Hause und nimmt Fred mit. Ich halts mit diesem Chaoten auch nicht mehr am selben Fleck aus und verziehe mich mit Finni in mein Zimmer zu dem schlafenden Captain. Rede mir dabei ein, dass sich der idiotische Plan am nächsten Morgen vielleicht doch als zu viel Alkohol herausstellt und die Jungs und Mädels wieder in der Realität ankommen.

Am nächsten Morgen geht’s dem Captain schon besser – wir haben uns ja in der Nacht auch mit Heilen an ihm versucht. Er will meinen Bus reparieren und umbauen! Bin neugierig, was dabei herauskommt.
Amy kommt und bringt Frühstück und ihre irische Flöte mit. Dann sitzen wir drei Mädels bei schönstem Sonnenschein auf einer Picknickdecke mit Kaffee und Croissants und Amy macht Musik … wobei sie ganz unauffällig versucht, in Petes Kopf zu gucken, während der noch seinen Rausch ausschläft. Als sie aus ihrer Trance herausfällt, erzählt sie Sachen, dass ich die außerplanmäßige Kommune-Sitzung doch wieder für eine gute Idee halte. Und tatsächlich die Möglichkeit in Betracht ziehe, die Polizei anzurufen. Obwohl ich mit den Jungs in Uniform sonst nicht so gut kann. Aber wenn mit Sarah auch noch Werwölfe drinstecken und das Gildehaus auch schon ein Auge auf die Sache hat, dann … nehmen wir doch erstmal den inoffiziellen Weg.
Bei der Besprechung mit ein paar Magiern konnte man sehr schön den Unterschied zwischen 3 empörten Frischlingen und einem Haufen abgeklärter Magier sehen, die erstmal gar nicht so drauf aus waren, der Sache entgegenzutreten. Aber vielleicht kriegen wir diese hitzköpfigen Werwölfe ja doch noch davon abgebracht. Der Gherkin als Indoor-Garten mit Schmetterlingszucht – das wäre schon cool.
Ich mache einen Abstecher zu diesem Hochhaus, um mir den Schauplatz näher anzuschauen. Wieso das Ding „Gurke“ heißt ist mir schleierhaft. Für mich sieht es eher wie eine fette Zigarre oder die Spitze einer Fliegerbombe aus. Die Leute, die da aus und ein gehen, mögen ja nervige Bankfuzzies sein, aber trotzdem … da könnte ja auch jeder kommen und unsere Kommune umpflügen, weil wir ihm zu alternativ oder nicht alternativ genug sind.
Ich hab keine Ahnung, was passieren wird, wenn die das wirklich durchziehen wollen. Ich weiß nur, dass wir das irgendwie verhindern müssen, und ich bin verdammt nah dran, „egal wie“ zu sagen.
Als nächstes fahre ich zur Uni und leihe mir aus der medizinischen Fachbibliothek einen Wälzer über die Anatomie des Menschen und fiese Krankheiten aus. Wieder zu Hause ziehe ich aus der hintersten Schrankecke ein Gildehaus-Buch. Gleiches Thema, andere Betrachtungsweise. Fasse ich normalerweise nur an, wenn Fred mir mit „Bild dich mal weiter“ auf die Nerven geht. Ich weiß, Leute meiner Tradition können echt fiese Sachen mit dem menschlichen Körper anstellen, wenn sie das wollen. Nichts, was ich bisher jemals ausprobieren wollte. Aber ich weiß nicht, was da auf uns zukommt. Wenn es wirklich auf „egal wie“ hinausläuft, muß ich vielleicht mehr tun als nur jemanden einschlafen lassen. Ich flacke mich ziemlich widerwillig samt der Bücher auf mein Bett und fange an zu lesen.

Am Tag danach sind Amy und Finni unterwegs, um den Brief von Finnis Mentor zu entschlüsseln. Wie sie den Kopf momentan dafür frei haben ist mir schleierhaft. Ich versuche weiter zu lesen, klappe aber die Bücher bald zu. So geht das nicht. Das hier sind immer noch mein Zuhause und meine „Mitbewohner“ und ich geh da jetzt rüber und klopfe. Ich will einfach mal mit Pete ein paar Worte wechseln und hören, was er von diesem Plan hält, wenn er in nüchternem Zustand ist. Ohne Sarah dabei.
Ein unausgeschlafener Möchtegern-Terrorist sieht nur noch halb so gefährlich aus. Wir gehen in die Küche Kaffee trinken, unterhalten uns ein bißchen und dann frag ich, ob er das wirklich ernst gemeint hätte, diese Sache mit der Bank.
Wie es aussieht, kann er sich gar nicht daran erinnern, was und wem er am Lagerfeuer davon erzählt hat. Muß der zu gewesen sein! Dann behauptet er, es sei alles nur ein Filmprojekt für die Uni. Soll ich jetzt laut loslachen oder ihn fragen, für wie dämlich er mich eigentlich hält? Dann spiele ich mit. Mal gucken, was er jetzt loslässt.
Ganz die interessierte Mitstudentin frage ich ihn also nach Filmhandlung und Mitspielern aus. Viel verrät er ja nicht. Er macht ja auch nur die Special Effects. Ah ja. Schon klar. Und dann schlägt er tatsächlich vor, ich soll die Kamera übernehmen. Schließlich wollen sie ja alles auf youtube hochladen. Whoa, Leute, ihr seid sowas von ... Als interessierte Mitstudentin sage ich zu und komme mir selten dämlich dabei vor. Aber wenn das ein Weg sein sollte, am besagten Tag näher an die Leute und ihre Aktion zu kommen, um einzugreifen? Gestern fand ich so eine Idee noch undenkbar, heute will ich keine Möglichkeit ausschließen. Außerdem ist ein Teil von mir sowas von am Lachen über dieses abstruse Kaffee-Kränzchen, dass eh schon alles egal ist.
Der Special-Effects-Master ist ein pflichtbewußterer Student als ich. Der geht zur Uni. Ich geh dann auch, mal wieder Präsenz zeigen, auf andere Gedanken kommen und endlich die Plakate für das Studentenprojekt „Ökokläranlage Gärtnerei“ aufhängen. Ich freu mich schon auf die Gesichter von Amy und Finni, wenn ich ihnen nachher die Film-Story erzähle … allerdings komme ich gar nicht mehr dazu.



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