Die Roland-Chroniken I: Internatsleben

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Alles fing damit an, dass Lehrerin Hant-Tschu auf die Idee kam, den Sportunterricht ins städtische Freibad zu verlegen. Roland hatte sich darauf gefreut – dieses Rumgehampel an Trainingsgeräten und in Simulatoren war wirklich nicht das, was er als körperliche Betätigung bezeichnet hätte. In diesen zweieinhalb Wochen, die er auf Comenius X verbracht hatte, fehlte es ihm eindeutig an Licht, Luft und Bewegung. Der ganze Tag war mit Unterricht und Übungsstunden verplant, und obwohl das altehrwürdige Paracelsus-Internat von Gärten umgeben war, die den Eindruck eines so genannten „altenglischen College“ (so der Internetauftritt) vermitteln sollten, kamen die Jugendlichen kaum jemals vor die Tür.
Das erste Problem war, dass Roland keine Badehose besaß. Auf Hinterwald war er viel geschwommen, aber die Tox hatten sich nicht darum geschert, dass er dabei nackt war. Sie waren froh, wenn er die Aufgabe übernahm, die Seile für eine provisorische Brücke ans andere Ufer zu bringen und dort zu befestigen – sie selbst schwammen nur im Notfall, das dicke Fell wog, einmal durchweicht, schwer am Körper.
Die Auswahl an alten, ein wenig sumpfig riechenden Badehosen, die ihm die Lehrerin aus der Kleidertruhe vorlegte, war nicht berauschend: Selbst die, die in der richtigen Größe für den hoch aufgeschossenen Jungen waren, saßen enger an, als es einem 14-Jährigen lieb sein konnte, der bisher kaum mit Menschen-Mädchen zu tun gehabt hatte. Geschweige denn, dass er mit ihnen ins Wasser ging. So stand Roland in einer Ecke, ein Handtuch um die Hüfte und die peinliche Badehose geschlungen, und beobachtete, wie seine Mitschüler mehr oder weniger gekonnt herumplanschten. Hant-Tschu war mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass der neue, stille Schüler nicht schwimmen konnte, aber zu schüchtern war, es zuzugeben. „Sei kein Feigling!“, sagte sie energisch. „Komm mit zum anderen Ende des Beckens, da kannst du stehen. Ich zeige dir, was du tun musst.“
Roland warf der Lehrerin einen kurzen Blick zu (er war bereits einen Kopf größer als sie), dann ließ er das Handtuch fallen, sprang mit Anlauf in das Becken und begann, es mit kräftigen Zügen zu durchqueren. Es dauerte nur wenige Sekunden, da schlug er am anderen Ende an und zog sich mit einem Ruck am Rand hoch.
Als sich Roland das Wasser aus den Ohren schüttelte und das nasse Haar aus den Augen strich, fiel ihm die Stille auf. Er drehte sich um. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Alle Mädchen und Jungen, die ihn bisher kaum beachtet und nur verstohlen gemurmelt hatten, wenn er im Klassenraum oder im Essensaal an ihnen vorbei ging, starrten ihn an. Oder starrten vielmehr die Stelle seines Körpers an, wo der Rücken aufhörte und der Hosenbund begann. Dann kreischte ein Mädchen: „Iiiihhhh, wie eeeeeklig!“

„Ich versteh dich nicht“, sagte Graufell, ohne den Blick von dem Computerbildschirm zu abzuwenden. „Ich wär froh, wenn ich hier abhauen und mal was vom Universum sehen könnte.“ Roland beobachtete mit einer guten Portion Neid, wie die haarigen Finger seines Tox-Freundes vor dem Bewegungsmelder die nötigen Gesten ausführten, um das Passwort zu umgehen. Wenn Roland versuchte, auch nur das normale Betriebssystem zu bedienen, machte der Computer seltsame Geräusche und der Bildschirm wurde schwarz. Dabei hatten ihm seine Eltern die Befehle erklärt – Graufell hatte sich alles selbst beigebracht. Allerdings stellte der junge Tox damit auf Hinterwald eine absolute Ausnahme dar.
„Von dir verlangt auch keiner, auf ein Scheiß-Internat zu gehen“, brummte Roland. „Internat“ sagte er auf Imparial – vielleicht mochten Tox-Kulturen auf anderen Planeten eine solche Einrichtung kennen und ein Wort dafür haben, aber nicht seine Familie hier, von der er Toxanisch gelernt hatte. Hier kümmern sich Eltern noch selbst um die Erziehung ihrer Kinder. „Vielleicht kommst du ja gar nicht an“, meinte Graufell und sein Pelz sträubte sich vor Aufregung. „Wer weiß, was im Chaos alles passieren kann. Vielleicht werdet ihr überfallen und die Flotte des Imperators kommt euch zu Hilfe und dann kannst du bei denen anheuern…“ „Klar doch“, sagte Roland. „Bist du bald drin?“ „Du darfst einen Meister bei der Arbeit nicht hetzten“, wies ihn Graufell zurecht und wechselte nahtlos ins Imperial. „Die Sicherungen sind nicht ohne. Deine Eltern wollen wohl nicht, dass irgendwelche Konkurrenz ihre wertvollen wissenschaftlichen Erkenntnisse über cultus toxa häckt. Hast du deinen PDA?“
Roland reichte den verschrammten Mini-Computer rüber und biss sich auf die Unterlippe. Er würde seinen Kumpel vermissen. Seine Familie. Die viele freie Zeit, die er hatte, wenn seine Eltern über irgendwelche Untersuchungen mal wieder vergaßen, dass er existierte. Das Fische-Fangen mit den Händen. Die Hindernisläufe im Wald…
„Tatarata!“, verkündete Graufell. „Welche Daten brauchst du?“ Roland sah ihm über die Schulter und überflog das Verzeichnis. „Die Adressen auf jeden Fall“, sagte er. Damit ich weiß, von welchen Planeten ich mich fernhalten muss, um keinen Bekannten von Agnes und Leopold zu begegnen. „Und medizinische Daten. Vielleicht muss ich dir irgendwann mal das Hirn öffnen um zu schauen, was da so kaputt ist.“ Graufell zeigte die Zähne, aber die zuckenden Ohren verrieten, dass er amüsiert war. „Nicht die Stammesrituale? Mannwerdung? Primitives Handwerk?“ Roland zischte. „Davon hab ich wahrscheinlich mehr Ahnung als die beiden. Immerhin hab ich dich drei Tage ohne Essen auf dem Olong-Berg ertragen müssen.“ Graufell stimmte einen Ritualgesang an und ahmte dabei die leiernde Stimme von Ahne Rotzeder nach, bis seine Ohren vor Vergnügen gar nicht mehr aufhören konnten zu wackeln und Roland lachen musste.
Plötzlich drehte sich Graufell vom Computer weg und sah seinem Freund in die Augen. „Wir werden uns kaum wieder sehen, oder?“ Roland schluckte hart. Jeder wusste, dass eine Reise durch das Chaos Gefahren barg. Nicht nur wegen der Dämonen. Vielleicht würde er nach einer Woche wieder in den Normalraum eintreten und feststellen, dass die Tox seit zwei Jahrhunderten ausgestorben waren. Unsinn! So schlimm kommt es nie!
Er zuckte mit den Schultern. „Hinterwald ist vielleicht am Arsch des Universums, aber die Schiffsverbindungen sind nicht so unzuverlässig, wie alle meinen.“ Graufell knurrte leise. „Ich mein eher, dass du keinen Wert drauf legst, so schnell wieder in die Reichweite deiner Eltern zu kommen.“ „Ich komm ja kaum aus ihrer Reichweite raus. Internat, dann Uni und überall ihre alten Bekannten, die ein Auge auf mich haben…“ Graufell stieß ihm sanft den Kopf ans Kinn. Die zärtliche Geste überraschte Roland. „Idiot!“, sagte der Tox. „Wenn du als greiser Veteran zurückkehrst, will ich mindestens drei unbekannte Planetensysteme beschrieben haben und einen Tyraniden-Kopf als Souvenir.“
In diesem Moment hörte Roland Schritte. „Der Computer“, zischte er und Graufell fuchtelte schnell den Ausgangsbefehl, während Roland seinen PDA in der Hosentasche verschwinden ließ. Da stand Agnes in der Tür und sah ihn streng an. „Junge, wie oft hab ich dir gesagt, dass du keine Tox hier reinbringen sollst“, sagte sie. „Es ist schlimm genug, dass wir durch unsere Anwesenheit als Beobachter bereits die Kultur beeinflussen. Wir müssen das Verfälschen der Ergebnisse auf ein Minimum beschränken.“
Roland stand wortlos auf und ballte die Fäuste in den Hosentaschen. Arrogante Wissenschaftler! Agnes wandte sich an Graufell und sagte auf Toxanisch: „Du, nichts kaputt machen. Husch, gehen nach Hause!“ Die beiden Jungen drückten sich schnell an ihr vorbei. „Roland, du bleibst!“, rief ihm Agnes nach. „Hast du überhaupt schon gepackt?“ Roland tat, als hätte er nichts gehört. Schlimm genug, dass er morgen an Bord gehen musste – aber dann wollte er den letzten Abend mit Graufell, Steinkraut und den Kumpels bei Papayas leckerem Gemüseeintopf verbringen.

Das kommt davon, wenn du irgendwelchen Leuten was beweisen willst. Roland spürte, wie seine Wangen heiß wurden vor Verlegenheit, als sich die Schulpriesterin hinunterbeugte und das kleine, haarige Schwänzchen betastete, das hinten aus seinem Hosenbund lugte. Schwester Krzoska war schätzungsweise tausend Jahre alt, über zwei Meter groß und schien nur aus Augen und Ellenbogen zu bestehen, an denen eine dunkle Robe hing. „Hat sich der Schiffspriester diese Chaosmutation angesehen, mein Junge?“, fragte sie mit einer Stimme wie knackendes Holz.
Roland antwortete nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Wie konnte es diese alte Hexe wagen, ihn so zu begrapschen? Er kannte sie nicht mal und mochte sie noch weniger. Am vergangenen Sonntag hatte Krzoska in ihrer Predigt zum Thema „Macht euch das Universum untertan“ von der natürlichen Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Alien gesprochen. Nicht, dass das eine Überraschung für Roland gewesen wäre – immerhin hatte er jahrelang mit Zähneknirschen Bruder Franzl ertragen -, aber er hatte die leise Hoffnung gehegt, sich hier auf diesem neuen Planeten nicht jede Woche mit Widerwillen in die Kirche schleppen zu müssen.
Schwester Krzoska packte den Jungen an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. „Die Veränderung muss dir doch aufgefallen sein“, sagte sie und seufzte. „Hat dich denn niemand über die möglichen Folgen einer Chaosreise aufgeklärt?“
„Schon“, murmelte Roland.
Die Priesterin seufzte noch einmal. „Also von vorn: Das hat nichts mit mangelndem Glauben zu tun und du musst auch keine Angst haben, dass dir ein D… ein höllisches Wesen zu nahe gekommen ist. Chaosmutationen passieren einfach…“
„Ich hatte das Schwänzchen schon vorher“, sagte Roland.
Die Schwester war in ihrem Redefluss gestört. „Bitte?“
„Hatte es schon vorher“, wiederholte Roland. „Seit meiner Geburt.“
Er sah gerade rechtzeitig auf, um die Verachtung in ihren Augen aufblitzen zu sehen, dann hatte die Priesterin eine undurchdringliche Maske aufgesetzt. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Du kannst jetzt gehen.“

Die ersten paar Tage an Bord des Handelsschiffes waren eine Qual für Roland. Dabei war die „Kontor“ mit rund 50 Männern und Frauen Besatzung nur ein kleiner Langstreckentransporter – Hinterwald lag zu weit abseits und konnte zu wenig Rohstoffe vorweisen, um für größere Händler interessant zu sein. Trotzdem hatte der Junge das Gefühl, dass die engen Gänge – oder noch schlimmer: die Kantine – heillos überfüllt waren: Maschinisten, Sicherheitstrupps, Packer und Tiertreiber, das Schiff schien nie zur Ruhe zu kommen. Bei jedem Schritt aus seinem Quartier heraus glaubte Roland, ersticken zu müssen. In seinem Quartier - einem kahlen Raum mit Bett, ausfahrbarer Dusche, einem Tisch und einem Lautsprecher mit Alarmknopf - gab es nichts zu tun als seinen Medizinbeutel durchzusehen und an seine Freunde zu denken. Nachts wälzte er sich schlaflos auf der Pritsche herum, weil das stetige Dröhnen der Maschinen in seinen Ohren schmerzte und er diese gefilterte, unechte Luft nicht mehr in seiner Nase ertragen konnte.
Obwohl sie gerade auf Hinterwald frische Lebensmittel an Bord genommen hatten, bestand das Essen aus Dosenfraß und haltbaren Energieriegeln – alles andere war für den Verkauf bestimmt. Roland drückte sich in der Kantine in eine Ecke, schaufelte das widerliche Zeug so schnell wie möglich herunter und war froh, wenn er wieder zurück in seinem Quartier war. Seit sie ihn an Bord begrüßt und einen Vortrag über das Chaosreisen runtergerasselt hatten, ignorierten ihn der Kapitän und der Bordpriester. Die Arbeiter machten um den Passagier in den nagelneuen Schulklamotten einen Bogen. Die Sicherheitstrupps verfolgten ihn stumm mit den Augen und achteten darauf, dass er nirgendwo hinging, wo er nichts zu suchen hatte.
Den Chaossprung verbrachte Roland auf seiner Pritsche. Er lag auf dem Bauch und hatte das Gesicht in die Arme vergraben. Die schutzzeichenbewehrten Handgelenkschoner dufteten nach frischem Leder, das beruhigte ihn ein wenig. Sie waren ein Abschiedsgeschenk seiner Eltern gewesen - oder wahrscheinlich hatte sich eher einer der wissenschaftlichen Assistenten darum gekümmert, wie sonst hätten die beiden ausnahmsweise mal seinen Geschmack treffen können. Der Schmuck stammte nicht von Hinterwald – wahrscheinlich war er mit eben diesem Schiff eingetroffen, mit dem er den Planeten jetzt schon wieder verließ. Das Leder war so leicht, weich und geschickt verarbeitet, dass Roland vergessen konnte, dass er überhaupt etwas an den Unterarmen festgeschnürt hatte. Kamuntfanisches Echsenleder, vermutete Roland, die Tox tauschten es gerne bei den Händlern ein: Geschmeidiger als das heimische Hirsch- oder Wildschweinleder, war es ungeheuer robust. Es würde niemals hart oder gar brüchig werden, selbst wenn er damit schwimmen ging. Die Größe ließ sich verstellen, dass er die Handgelenkschoner auch dann noch würde tragen können, wenn er ein ausgewachsener Mann war. Die beiden Georgiuszeichen waren eingebrannt und schwarz nachgemalt.
Ich habe keine Angst. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Roland zwang sich, ruhig zu atmen, während der Priester über den Lautsprecher ein Gebet intonierte. Einen Moment lang fühlte es sich an, als würde das Schiff einmal rundum gedreht und die Schwerkraft ausgeschaltet. Sein leerer Magen (er hatte kein Abendessen runtergebracht) machte die Rolle in die entgegengesetzte Richtung. Gleich darauf war wieder alles ruhig, ließ kein Geräusch vermuten, dass sie in eine andere Dimension übergetreten waren. Kapitän Slasher machte eine knisternde Durchsage, dass alles problemlos verlaufen sei. Eigentlich hätte ich auch beten sollen, dachte Roland mit einem Anflug schlechten Gewissens. Er wollte nicht derjenige sein, der die Dämonen auf das Schiff aufmerksam machte. Dann lag er da und lauschte. Klangen die Maschinen anders als sonst? Wann würde er zum ersten Mal das Kratzen an der Außenhülle hören, von dem so viele Chaosreisende berichteten? Jetzt waren da nur eine Schiffswand und ein paar Schutzzeichen zwischen ihm und den gefährlichsten Wesen des Universums… Wie sah das Chaos eigentlich aus? Roland hatte das Gefühl, wenn er nur sehen könnte, was draußen los war, egal, wie furchtbar es sein sollte, würde er sich besser fühlen. Besser die Gefahr sehen. Aber er hatte keinen Zugang zu den Außenmonitoren.
Als Roland zum unendlichsten Mal zusammengezuckt war, weil er das Zischen einer Tür für den Atem eines Dämons gehalten hatte, stand er auf. Barfuß und ohne Hemd – es war auf dem Schiff viel wärmer als in einer Tox-Hütte – schlich er auf den Gang hinaus. Er war leer – der Kapitän hatte zwar keine ausdrückliche Ausgangssperre verhängt, aber vermutlich fühlte sich der Großteil der Besatzung in seinen Kabinen mit seinen persönlichen Schutzzeichen und seiner Familie sicherer. Als er an Bord gekommen war, hatte Roland gesehen, wo die Tiertreiber die Wildschweine verstaut hatten. Er brauchte jetzt etwas Lebendiges um sich, was sich keine Gedanken um Chaos oder die Zukunft machte. Die nächste Schicht fand den jungen Passagier schlafend in einem Haufen Stroh, einen leeren Futtersack um sich geschlungen. Er hatte in den Boxen die Einstreu gewechselt und die Wassertröge aufgefüllt. Eine Weile standen die drei Männer da und schauten auf das entspannte Gesicht hinunter. Dann drehte sich einer wortlos um und ging ein Kartenspiel und Kaffee holen – vier Kaffee.

Am Abend saßen rund 90 Schüler in dem Aufenthaltsraum an den Computern und beschäftigten sich mit ihren Hausaufgaben. Roland war der einzige, der einen Block aus Papier neben sich liegen hatte. Dort hatte er sich notiert, welche Computerbefehle er wo finden konnte. Die Schulgeräte waren alt – die reicheren Schüler hatten ihre eigenen Laptops mitgebracht – und funktionierten noch mit Tastatur, was Roland die Arbeit ein wenig erleichterte. Er verglich gerade seine Zeichnung mit dem Keyboard, um die Shift-Taste zu finden. Deshalb bemerkte er nicht gleich das Pop-Up, das auf allen Bildschirmen im Raum aufging. Kichern riss ihn aus der Konzentration.
Dafür, dass sie in aller Eile entstanden sein musste, hatte der Schöpfer der Animation Rolands Gesichtszüge recht gut getroffen. In einer Schlammsuhle war das nackte Karikatur-Männchen dabei, ein haariges Etwas, das entfernt an eine Tox erinnerte, von hinten zu rammeln, dass sein Schwänzchen nur so wippte. „Beagle arbeitet fleißig gegen die (wohlverdiente) Ausrottung der Aliens an“, blinkte am unteren Bildrand.
Mittlerweile lachten alle Schüler um ihn herum. Einige machten rhythmische, grunzende Geräusche. Roland fühlte etwas in sich hoch wallen und konnte nicht entscheiden, ob Hitze oder Kälte. Er sah sich um, bis er einen Jungen entdeckte, der ihn gespannt beobachtete. Er war am Morgen im Schwimmbad dabei gewesen, aber Roland kannte seinen Namen nicht.
Der stolze Künstler hatte nicht damit gerechnet, dass ihn der Neue so schnell in der Masse identifizieren würde. Oder mit welcher Geschwindigkeit er den Raum durchqueren würde, ohne seine Luft auf ein einziges Schimpfwort zu verschwenden. Deshalb traf ihn der erste Schlag völlig unvorbereitet, brach ihm die Nase und wischte das Grinsen von seinem Gesicht.
Schuldirektor Pirotte wog unschlüssig seinen Spazierstock in der Hand. Er hatte schon einigen störrischen Schülern mit dieser Spezialanfertigung einen Elektroschock versetzt. Doch bei dem Neuen kamen mehrere Faktoren zusammen, die ihn zögern ließen. Einer davon war die Tatsache, dass ihn der 14-Jährige um eineinhalb Köpfe überragte. Ein anderer, dass der Störenfried nach einer Stunde bereits wieder aus der Krankenstation entlassen worden war, während drei seiner Gegner erst in ein paar Tagen wieder einsatzfähig sein würden.
„Ich bin sehr enttäuscht… Roland“, sagte Pirotte mit einem kurzen Blick auf seinen Computerbildschirm. „Deine erschreckenden Wissenslücken und deine Unfähigkeit im Umgang mit der simpelsten Technik ist schon schlimm genug, aber du bemühst dich ja nicht mal, dich in die Gemeinschaft zu integrieren.“ Der Junge blickte ihn wortlos an. Starrsinnig oder stumpfsinnig?, fragte sich der Direktor und lehnte sich seufzend in seinem Sessel zurück. „Wir haben dich nur deshalb so spät noch aufgenommen, weil dein Vater ein ausgezeichneter Absolvent unserer Einrichtung war und ein hochgeehrter Ehemaliger ist. Eine Schande, dass er seine Talente an die Erforschung völlig nutzloser Aliens verschwendet…“
Der Direktor sah Rolands Gesicht und verlor den Faden. Obwohl sich der Junge nicht bewegte und keinen Ton von sich gab, hatte Pirotte einen Augenblick lang das dringende Bedürfnis, zum ersten Mal in sieben Jahren den Sicherheitsalarm auszulösen. Er umklammerte seinen Stock und holte tief Luft – da sah er wieder nur einen zerknitterten Strolch mit einem Bluterguss auf der Wange und dümmlichen Gesichtsausdruck. Er versteht gar nicht, was das Problem ist, dachte Pirotte. Wie soll er in der Wildnis Manieren gelernt haben? „Du… du wirst die Nacht in der Arrestzelle verbringen und auch morgen zwischen den Unterrichtsstunden dort darüber nachdenken, wie du dich bei deinen Mitschülern entschuldigen kannst“, sagte der Direktor und rief seine Sekretärin herein, damit sie den Jungen hinaus begleitete.
Die Tür hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, da erkannte Roland bereits, wo das veralterte Überwachungssystem den kleinen, kahlen Raum nicht ausleuchten konnte. Er schlenderte einmal durch die Zelle, ließ die Spülung der Toilette laufen, setzte sich dann wie zufällig in diesen toten Winkel und lehnte sich an die Wand. Er zog seinen PDA aus der Tasche. Pirotte hatte es nicht mal für nötig befunden, Roland nach technischem Spielzeug zu durchsuchen, wie er es wahrscheinlich bei jedem anderen Schüler gemacht hätte.
Roland grinste, obwohl die Schwellung in seinem Gesicht dadurch stärker pochte. Er rief den allgemeinen Zugang zur Schulbibliothek auf. Die Bibliothekarin war beinahe verzweifelt, als er sie zum fünften Mal darum gebeten hatte, ihm zu erklären, wie er die 700.000 verschiedenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Romane an seinem Taschencomputer öffnen und lesen konnte. Zum Glück gibt es keinen Grund, die mit irgendwelchen Accounts zu schützen, dachte Roland, lehnte sich zurück und begann in der erstbesten Datei zu schmökern.
Er sollte in den kommenden drei Jahren viel Zeit mit Lesen verbringen. Fast so viel Zeit wie damit, seine Nahkampftechniken zu verfeinern. Dann war Roland der Meinung, dass das Paracelsus-Internet genug für seine Bildung getan hatte, und machte sich davon.



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