Die Roland-Chroniken III: Das Geheimnis

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Von selbst wäre Juro kaum darauf gekommen, dass Roland ein Geheimnis hatte. Doch dann fing ihn Hannibal eines Morgens vor dem Eingang zum Bereich des Sicherheitsdienstes ab. Offenbar war der kräftige Farmer bereits draußen gewesen, er stampfte mürrisch mit den Schneestiefeln auf und drehte eine Pelzmütze mit Ohrenklappen in den Händen hin und her. Juro dagegen hatte für die wenigen überdachten Meter von seiner Wohnung zum Büro nur eine dünne Uniform angezogen. „Morgen, Juro“, brummte Hannibal ganz im Gegensatz zu seiner üblichen jovialen Begrüßung. „Kann ich kurz mit dir reden, äh ... vielleicht vor der Tür?“
„Äh... klar.“ Juro folgte Hannibal durch die Seitenschleuse und nickte den Wachen zu, die eilig salutierten. Der Innenhof des Gebäudekomplexes der Ährengarde war von Schnee befreit, Arbeiter verluden Materialien und Werkzeuge auf Lastwagen, ihr Atem hinterließ Wolken in der Luft und gefror in ihren Augenbrauen, wenn sie sich Anweisungen und Witze zuriefen. Stahlaxt winkte Hannibal zu, der nur zerstreut zurücknickte und sich dann an Juro wandte. Er sprach so leise, dass ihn der Sicherheitschef gerade so über den Tumult hinweg hören konnte. „Irgend etwas stimmt nicht mit Roland“, sagte Hannibal. Als er Juros Blick sah, fuhr er schnell fort: „Du kennst mich, ich sag jedem offen ins Gesicht, was ich denke, aber jetzt muss ich doch mal...“ Hier stockte der glatzköpfige Mann wieder.
Juro, dessen Füße bereits vor Kälte zu kribbeln begannen, zog die Schultern hoch. „Hannibal, sag einfach, was das Problem ist, oder wir gehen in mein Büro, bevor ich mir was abfriere.“
„Oh, natürlich.“ Hannibal sah einen Augenblick lang von seiner Pelzmütze auf Juros Kopf und überlegte offenbar, ob er sie dem Leutnant anbieten sollte. „Äh... Also: Die Hirten sagen mir, dass Roland mittlerweile täglich Aoraki nimmt und sonstwohin verschwindet. Ich mein, ich hab nie was gegen seine kleinen Ausflüge hin und wieder gehabt. Aber gestern sind zwei Mastodons auf einem Hang ins Rutschen gekommen und einen Abhang hinuntergestürzt. Klar, das kann immer passieren, aber vielleicht wäre es nicht passiert, wenn der Hütegreif dagewesen wäre. Es ist echt nicht leicht für meine Leute, die ganzen Tiere zusammen zu halten.“
Juro hauchte in seine Hände. „Hast du Roland danach gefragt?“
Hannibal kniff die Lippen zusammen. „Schon, aber du weißt ja, wie er manchmal ist. Stur wie ein Hängebauchschwein. Sagt nur was von Erkundungen und dass er mir gern noch weitere Leute zum Hüten bereit stellt. Ich kann’s ihm ja auch nicht verbieten, schließlich ist Aoraki sein Greif.“ Er senkte die Stimme noch weiter. „Meinst du, es ist wieder dieses Weibsbild?“
„Das glaub ich kaum, Ramona verlässt die Station eigentlich nie“, sagte Juro. „Sie reden überhaupt nicht miteinander.“ Zum Glück sind wir hier nicht mehr so beengt wie in einem Raumschiff, dass er ihr ständig über den Weg laufen muss. Oder ich, fügte er in Gedanken hinzu.
Hannibals Miene war zweifelnd. „Ihm hängt diese verpatzen Heirat immer noch nach, obwohl jeder weiß, dass es so am besten für ihn war“, sagte er. „Wenn er nur mal auf mich hören würde! Ok, Clara ist vergeben, aber da gibt es auch noch Michelle...“
„Äh, danke, Hannibal“, sagte Juro hastig. „Mach dir keine Sorgen, ich rede mal mit Roland.“
Während der Farmer über den Hof davon stapfte, blieb Juro noch eine Weile stehen und überlegte. Ja, vielleicht war Roland in den wenigen Minuten, die sie sich momentan am Tag sahen, noch wortkarger gewesen als sonst, aber dem hatte er nicht viel Bedeutung beigemessen: Die landwirtschaftliche Produktion auf diesem Eiswürfel hier aufzubauen war Arbeit genug und der Angriff der Brahim hatte sie einiges an Zeit gekostet. Konnte es Liebeskummer sein? Oder irgendein abgedrehtes Roland-Problem? Immer grübelte und grübelte sein Freund über was nach und dann haute er irgendeinen Klops raus. Dass er Juro für einen Profikiller hielt zum Beispiel. Oder dass ihm ein Dämon im Traum erschienen. Juro schnitt eine Grimasse und machte sich eilig auf den Weg ins Warme. „Computer“, sagte er, kaum dass er durch die Schleuse getreten war. „Wo ist Roland Beagle?“

Der Kühlraum verdiente den Namen eigentlich nicht: Hier lagerte nur das Fleisch, das innerhalb der nächsten zwei Tage aufgebraucht wurde, und die meiste Zeit des Jahres waren sie damit beschäftigt, die Temperaturen auf den Gefrierpunkt herauf zu heizen. Das war eines der wenigen Details, die sich Juro von der Lebensmittelproduktion gemerkt hatte, weil er die Tatsache einfach witzig fand. Als er die Tür öffnete, war Roland gerade dabei, eine Schweinshaxe in Folie einzuschlagen.
„Hi“, sagte er, ohne aufzusehen. Offenbar hatte er Juros Schritte erkannt.
„Hi“, sagte Juro. „Was hast du denn heute vor?“
„Erkundungsflug mit Aoraki“, sagte Roland und stopfte die Haxe in seinen großen Rucksack. „Echt nicht zu fassen, wie viel wir von dem Asteroiden noch nicht kennen.“
„Na, dafür sind schließlich die Spinnenreiter da, oder?“
Roland schnaubte. „Die Herren Aufklärer bewerten eine Landschaft nur aus militärischer Sicht. Ich will nicht nur wissen, wo unterirdische Wasservorräte sind, ich will auch wissen, was sich da so an Leben tummelt und woher die Wärme kommt, die das Eis schmelzen lässt.“ Er war für eine längere Tour gekleidet und schwitzte in dem dicken Mantel mit Pelzkapuze.
„Wär’s nicht besser, du ziehst deine Rüstung an?“, fragte Juro. „Vielleicht tummeln sich ja noch ein paar Brahim da draußen.“
Roland klopfte auf seinen Gürtel, an dem Machete, Axt und Laserwaffe hingen. „Passt schon. Das wäre den GUs und ihren Aufklärungssatteliten sicher aufgefallen, wenn noch weitere Trupps gelandet wären als die, die wir zurückgeschlagen haben, oder?“
„Trotzdem...“
„Aoraki mag es nicht, wenn ich Rüstung trage. Ich mag es nicht, mit Rüstung zu reiten. Ich brauch das Gefühl dafür, wie er sich bewegt. Ist eben ein Tier und nicht irgendein Flieger.“
Es war zum Wahnsinnig-Werden. Für jemanden, der immer noch so ungern sprach, hatte der verdammte Kerl einfach auf alles eine Antwort! Juro wünschte sich, er hätte Rolands Gespür dafür, wenn jemand log.
„Wie lange willst du denn wegbleiben bei dem Gepäck?“, fragte er als sich Roland den Rucksack auf den Rücken schwang.
„Nur heute. Die Haxe ist ein kleiner Snack für Aoraki. Muss dem Kerl was bieten, wenn ich ihn durch die eisige Luft scheuche“, brummte Roland und marschierte an Juro vorbei. „Mach die Tür zu, das kostet Energie.“

Das nächste Mal sah Juro seinen Freund auf der Krankenstation wieder. Wie die Wachen an der Hauptschleuse berichteten, kehrte Roland kurz nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Er ritt weit vornüber gebeugt, während sein Blut auf Aorakis weißes Fell tropfte und den Hütegreif vor Nervosität tänzeln ließ. Die Sicherheitsleute hatten versucht, ihn von dem Tier herunter zu holen, doch Aoraki scheute zurück und drohte seinen Reiter abzuwerfen. Obwohl sich Roland vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte, führte er den Greif selbst in seine Box und wies einen Stallburschen an, ihn zu waschen, bevor er zur Krankenstation taumelte.
Als Juro in den Raum stürmte, drückte Emanuelle Roland gerade wieder auf die Liege zurück. „Du wirst erst aufstehen, wenn ich es sage!“, schimpfte sie. „Die Kratzer waren kein Problem, aber man hätte echt meinen können, dass du sie früher versorgst, so viel Verbandszeug, wie du mit dir rumschleppst! Am besten behalte ich dich die ganze Nacht hier, bis du den Blutverlust ausgeglichen hast.“ Roland zog eine Grimasse, blieb aber liegen. „Sir“, sagte Emanuelle, als sie Juro sah, und wandte sich mit einem letzten bösen Blick in Rolands Richtung ihrem anderen Patienten zu. Ein übermütiger Jugendlicher hatte sich zu nahe an der Energieversorgung herumgetrieben. Jetzt stand er unter medizinischer Beobachtung, bis die Lähmung nachließ, die die Spucke der wachhabenden Basiliskenwölfe ausgelöst hatte.
„He, Juro“, sagte Roland. „Die Herrin hat gesprochen. Sonst wär ich schon längst in meinem eigenen Bett.“
Juro zog sich einen Stuhl ans Bett heran. „Was ist denn passiert?“
„Schneehöhlenbär. Herrliches Tier, sicher dreieinhalb Meter hoch. Aber er war gar nicht begeistert, als ich quasi gegen ihn gerannt bin, so gut getarnt, wie er war.“
„Ich hab doch gesagt, zieh eine Rüstung an! War das in der Nähe der Siedlung?“
Roland schüttelte den Kopf und nestelte mit dem Infusionsschlauch herum, ohne seinem Freund in die Augen zu sehen.
„Hast du ihn erlegt?“
„Aoraki hat ihn in die Flucht geschlagen, leider erst nachdem er mich an der Seite erwischt hat.“
Juro rief die Bilder der Verletzung auf dem Computerbildschirm auf: Drei parallel laufende, tiefe Striemen, die sich über Rolands halbe Brust zogen. „Und Aoraki ist unverletzt?“, fragte er ungläubig.
„Hält schon was aus, so ein Hütegreif“, brummte Roland. Dann gähnte er. „Emanuelle hat mich so voll Schmerzmittel gepumpt, ich schlaf gleich ein. Reden wir morgen weiter, ok?“ Juro klopfte ihm kurz auf den Arm. „Ok. Schlaf gut.“
Von der Krankenstation aus ging Juro direkt zu Bill. Das Apartment des rundlichen Hackers sah nicht mehr ganz so ordentlich aus, seit Lilo ausgezogen war. „Was kann ich für dich tun?“, fragte Bill nur mit der Hälfte seines fröhlichen Grinsens.
„Kannst du mir sagen, wo sich Roland heute rumgetrieben hat?“
Bill seufzte. „Ihr solltet euch mal entscheiden. Wollt ihr eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung für alle Beteiligten oder wollt ihr keine?“ Er stöpselte sich mit einer weiteren Buchse in den Computer ein. „Roland und sein Flattervieh haben um 11.03 Uhr den letzten offiziellen Posten in Richtung Nordosten passiert. Da er den ganzen Tag nicht mit uns gefunkt hat, kann ich nicht sagen, wohin er von da aus geflogen ist. Du könntest mal die Spinnenreiter fragen, aber so ein Greif ist auch von der Flugabwehr kaum auszumachen.“
„Scheiße“, murmelte Juro.
„Warum? Was hat er denn jetzt wieder angestellt?“, fragte Bill.
„Gar nichts“, sagte Juro und versuchte, auch vor sich selbst überzeugend zu klingen.

Das Frühstück mit Ariane hatte etwas länger gedauert als geplant, doch als Juro zur Krankenstation ging, war er fest entschlossen, Roland gerade heraus zu fragen, was sein Problem war. Und ihm zu sagen, dass er sich mit seinen Spielereien selbst in Gefahr brachte und außerdem seine Arbeit vernachlässigte.
Doch die Liege war leer. „Entschuldigung, Sir, Leutnant Beagle ist schon vor drei Stunden gegangen“, sagte Meredith. „Aus medizinischer Sicht gab es keine Einwände dagegen. Hätte ich ihn aufhalten sollen?“
„Nein, schon gut“, sagte Juro, wandte sich zum Gehen und startete die Suchanfrage. Roland hatte den Stützpunkt vor einer halben Stunde verlassen, teilte der Computer mit – zusammen mit Aoraki. Juro fluchte. Er hätte der Sicherheit Anweisung geben können, ihn nicht raus zu lassen. Aber wie sah das aus, wenn er seinen Mit-Kommandierenden unter Arrest stellte? „Genauso schlimm wie Scherbchen“, murmelte Juro. Nun, was konnte er schon tun? Er ging in sein Büro.
Zwei Stunden später meldete sich Bill. „Falls es dich immer noch interessiert, Roland ist in den Bergen nordwestlich von hier, anscheinend hat er einen Umweg gemacht, um seine Spur zu verwischen. Jetzt bewegt er sich aber seit etwa einer Viertelstunde nicht mehr vom Fleck.“
„Hast du ihm einen Peilsender angehängt oder was?“, fragte Juro, während er hastig die Einstiegssequenz seiner Rüstung aktivierte.
„Ich dachte, wenn du schon fragst...“
„Ok, gib mir die Daten.“
Es war unmöglich, den Jäger direkt an den Koordinaten zu landen. Nichts als eisbedeckte Hänge und zerklüftete Felsen... nein, da, das könnte gehen. Juro steuerte das kleine Plateau unterhalb der Stelle an, wo sich Roland nach Bills Informationen aufhielt, und stellte den Motor ab. Hassan machte kein begeistertes Gesicht, als er hinter ihm aus dem Flieger kletterte. Es schien ihm nicht zu behagen, seinem Kumpel Roland hinterher zu spionieren. Aber falls Roland irgendwelche Dummheiten angestellt hatte, war es Juro lieber, den Falken als einzigen Zeugen dabei zu haben. Wobei Juro sowieso nicht die leiseste Vorstellung davon hatte, mit was er eigentlich rechnen musste.
Er sicherte Hassan mit einem Seil und stieg dann voran. Die Rüstungen waren unter anderem mit ausfahrbaren Spikes auf die eisigen Verhältnisse eingestellt worden, doch man wusste nie. Etwa eine Viertelstunde später umrundete Juro eine Felsennase, die der ewige Wind völlig von Schnee frei gefegt hatte, und fand sich plötzlich am Rande eines Vorsprungs Auge in Auge mit Aoraki wieder. Der Hütegreif gab ein drohendes Krächzen von sich, doch als ihn Juro ansprach, beruhigte er sich, trat zur Seite und wandte sich wieder seinem Lieblingsspielzeug zu, einem mitgenommenen aussehenden Zopf aus Leder. Immerhin hatte das Tier Juro öfter mit Roland erlebt, auch wenn sich der Sicherheitschef nicht gerade darum riss, den scharfen Schnabel zu streicheln.
„Langsam, Hassan, erschreck ihn nicht“, sagte Juro über Funk, als der Falke hinter ihm auftauchte. Doch Aoraki schenkte dem zweiten Neuankömmling überhaupt keine Beachtung. „Bleib hier, ich werd mir erst mal ein Bild von der Lage machen.“ „Ja, Sir“, sagte Hassan und postierte sich am Eingang der Höhle, der erst sichtbar wurde, als sie unmittelbar davor standen.
Juro bewegte sich so leise, wie es ihm in seiner Rüstung möglich war, und lauschte auf verdächtige Geräusche. Die Höhle war kein geschlossener Raum, eher ein verwinkelter Schlauch mit mehreren Löchern und Scharten, durch die Schnee hereingeweht wurde. Doch die Spuren waren zu verwischt, als dass Juro etwas erkennen konnte. Außerdem war eher Roland der Spurenleser in der Wildnis. Eines jedoch war nicht zu übersehen: Blut. Geronnenes Blut und noch etwas anderes, eingetrocknete, gelbliche Flecken...
Er will doch nicht wirklich einen Schneehöhlenbären zähmen! Das war Juros erster Gedanke, als er um die Kurve bog und Roland vor dem Käfig stehen sah, in dem ein haariges Ungetüm hockte. Doch gleich darauf wurde ihm klar, dass Bären auf diesem Asteroiden niemals ein solches rotbraunes Fell hatten. Dann ruckte der Kopf des... Dings und wandte ihm das verschrumpelte, beunruhigend menschenähnliche Gesicht zu. Juro entfuhr ein so gotteslästerlicher Fluch, dass er unwillkürlich eine Schutzgeste machte, bevor er nach seiner Waffe griff. „Roland... Bitte nein!“, keuchte er. Sein Freund war herumgefahren und starrte ihn mit vor Überraschung geweiteten Augen an. Einen Moment lang war das einzige Geräusch das Klappern von Mandibeln.
Juros Stimme klang in seinen eigenen Ohren, als käme sie aus sehr großer Entfernung. „Das ist ein Brahim.“

Die große Schlacht gegen die Brahim war etwa eine Woche her, als Roland durch Zufall den Überlebenden fand. Wahrscheinlich war er im Schneetreiben mit seinem Jäger abgestürzt, Pilotenfehler, technisches Versagen, was auch immer. Roland hatte die Suche nach dem Wrack in dem zerklüfteten Gelände bald wieder aufgegeben. Er bezweifelte, dass irgendjemand es je finden würde, selbst wenn sich die Spinnenreiter die Mühe machen sollten, das vom Kampfschauplatz völlig abgelegene Gebiet zu scannen.
Es war Aoraki gewesen, der den Geruch von Alien-Blut wahrgenommen und sich wie toll gebärdet hatte, als Roland mit ihm die Berge überflog. Wie es der Brahim in seinem Zustand geschafft hatte, sich bis in die Höhle zu schleppen und dort tagelang ohne Nahrung zu überleben, war Roland ein Rätsel. Er stand da und starrte den haarigen Berg an, dessen Flanken sich nur schwach hoben und senkten, während gelbes Blut in seinem Fell gefror. Mit Schaudern dachte er an den Überfall auf die Stallungen.
Während die Schlacht im Weltraum Sternschnuppen an den taghellen Himmel malte, hatte es eine Gruppe geschafft, die Linien zu durchbrechen und bis zu den Nebengebäuden der Siedlung vorzudringen. Diese riesigen, behaarten Monster kreischend auf sich zustürmen zu sehen, während sie phosphoreszierende Morgensterne über ihren Köpfen schwangen... Es gab schönere Anblicke. Die Ährengarde hatte gekämpft, Bridget und Mister Miller natürlich in vorderster Front, aber auch Dschingis‘ und sogar Harteks Leute. Roland hatte aufgehört zu zählen, wie viele Brahim er selbst getötet hatte, als alles in einem Chaos aus Blut und Schreien untergegangen war. Schließlich hatten die Spinnenreiter mit ihren Greebos die versprengten Reste gejagt und erlegt – doch einen hatten sie ganz offensichtlich übersehen, weil er gar nicht erst am Kampfschauplatz angekommen war.
Roland nährte sich dem Brahim vorsichtig und spielte mit der Hand am Griff seiner Laserwaffe. Es wäre ganz leicht, den bewusstlosen Feind zu erschießen, ja, vielleicht sogar eine Erlösung... Doch es war nicht nur der Gedanke, einen Wehrlosen zu ermorden, der an Roland nagte. Vielleicht war das auch eine Chance, mehr über die Brahim zu erfahren. Wenn es ihm nur gelang, mit diesem hier zu kommunizieren, vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich zu einigen. Roland weigerte sich zu glauben, dass eine Rasse durchweg böse war. Bei den Brahim gab es sicher genau wie bei den Menschen schlichte Soldaten, die einfach ihren Job machten und Familie und Kinder hatten.
In den kommenden Tagen kämpfte Roland um das Leben des Brahim. Er stand vor den gleichen Problemen wie damals, als Sandrose verletzt war und er sich hatte eingestehen müssen, dass er zu wenig über die Tox-Anatomie wusste. Doch nicht mal in den Unterlagen, die ihm Professor Becker hinterlassen hatte, konnte er mehr als vage Erkenntnisse über die Brahim finden, die über die Benennung ihrer Schwachstellen im Zweikampf hinaus gingen. Doch es gelang Roland, die Wunden zu schließen und die Lebensfunktionen zu stabilisieren. Er transportierte Material herbei, unauffällig ein Stück nach dem anderen, und baute einen Käfig, bevor der Brahim aufwachte. Roland machte sich keine Illusion darüber, wie Juro oder die anderen Mitglieder der Ährengarde reagieren würden, sollten sie entdecken, was er vorhatte. Und er machte sich keine Illusion darüber, wie der Brahim im ersten Moment auf seinen Lebensretter reagieren würde.
Doch so schwierig hatte er es sich nicht vorgestellt. Kaum war der Brahim wieder bei Bewusstsein, wurde es so gut wie unmöglich, seine Wunden zu versorgen, so sehr wehrte er sich gegen die Anwesenheit des Menschen. Zwar nahm er das Fleisch an – ein ekelhafter Anblick, wie er es mit seinem Sekret zu einem Brei zerschmolz und geräuschvoll aufschlürfte, wobei er Roland nie aus den Augen ließ –, doch er reagierte in keinster Weise auf Rolands Versuche, ihm einige Worte Imperial beizubringen, noch war er bereit, seinen Namen mitzuteilen. Roland probierte es mit Toxanisch und mit der Gestensprache der Limkamar in der Hoffnung, der Brahim möge etwas Bekanntes entdecken. Als er schließlich versuchte, eine Art Trommelcode zu improvisieren, zischte das Alien nur und schlug mit der Pranke nach dem Musikinstrument.
Die Tage vergingen und Roland zweifelte immer mehr daran, ob er den Brahim je von seinen guten Absichten würde überzeugen können. Wenn Roland ihn betrachtete, wie er, gleich einem gefangenen Tier, an den Gittern auf und ab tigerte, hallten die alten Vorwürfe von Becker in seinem Hinterkopf wider. Wie seine Mutter! Experimente machen, was? Diese Beagles sind doch alle gleich! Vielleicht wollte der Brahim lieber sterben, als sein Leben im Käfig zu fristen, in den Händen seiner Feinde...
Als Roland gestern die Höhle betreten hatte, lag der Brahim da und rührte sich nicht. Roland sprach ihn an. Nichts. Er holte das medizinische Analysegerät hervor, doch die verwirrte Elektronik konnte ihm nichts sagen, was er nicht schon selbst sah: keine offenen Wunden, Atmung flach. Vielleicht hatte das Alien bei dem Absturz doch schwerere innere Verletzungen davongetragen als bisher angenommen. Ja, es war der älteste Trick der Welt, aber Roland musste einfach sicher gehen und die Käfigtür öffnen. Dass er durchaus einen Hinterhalt in Betracht zog, rettete ihm das Leben. Statt ihm den Schädel zu zertrümmern, streifte ihn die Pranke nur, als Roland zurücksprang und das Schloss aktivierte. Sein Erster Hilfe-Kasten war leer – er hatte Emanuelle schon verdächtig große Mengen abgeschwatzt und der letzte Sprühverband verging auf dem Körper des Wesens, das gerade versucht hatte, ihn umzubringen. „Dir ist schon klar, dass das einen Schatten auf unsere Beziehung wirft?“, murmelte Roland resigniert und schleppte sich zu Aoraki.

„Du bist völlig wahnsinnig!“, quiekte Juro fassungslos. „Wahnsinnig!“ Mit zitternden Händen hob er seine Waffe. „Geh zur Seite!“
Roland stellte sich mit erhobenen Armen vor den Käfig. „Juro, hör zu...“
„Nein“, fauchte Juro. „Du hörst mir zu! Das geht zu weit. Jeden anderen, der so eine Nummer abzieht, müsste ich sofort erschießen. Kannst du dir vorstellen, was Achmed und Ali tun, wenn sie hiervon Wind kriegen?“
Roland wurde ein wenig blasser. „Warte. Ich will’s dir nur erklären. Wenn du mir ein bisschen mehr Zeit gibst, kann ich ihn vielleicht dazu bringen, mit uns zu sprechen...“
„Das ist ein Brahim! Selbst wenn wir ihn foltern, verstehen wir nicht mal, was er sagt!“
„Ich rede nicht von Foltern!“, knurrte Roland. „Ich rede von Kontaktaufnahme, von Überzeugen, von Verträgen irgendwann...“
„Brahim! Mehr muss ich nicht wissen.“ Juro hatte sich gefasst und sprach mit ruhiger, kalter Stimme. „Soll ich dir vorrechnen, wie viele Leute wir bei ihrem Angriff verloren haben? Willst du die Falken fragen, warum sie nicht mehr nach Hause können? Und du hältst das Ding hier wie ein Haustier!“ Das hatte gesessen, erkannte Juro mit einer gewissen grimmigen Befriedigung. „Jetzt geh zur Seite!“
„Chhooooo...änd.“
Juro merkte, dass er wieder die Nerven verlor. „Der Eine steh uns bei...“
„CHOÄND!“
Roland drehte sich zu dem Brahim um, der sich an die hintere Käfigwand drückte. Der Ausdruck in den Facettenaugen waren unlesbar, doch die Stimme klang beinahe flehend: „Choänd...“
Roland musste sich an der Eckstrebe des provisorischen Gefängnisses festhalten. Sein Gesicht war aschfahl, der Ausdruck zeigte zugleich Erregung und Ekel. „Meine Güte...“, murmelte er schwach.
Juro schluckte hart. „Er hat nur erkannt, was ich vorhabe“, krächzte er. „Er will nicht dein Freund sein, er will nur, dass du mich aufhältst.“
Roland nickte, doch Juro war nicht sicher, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Der Brahim duckte sich auf den Boden und blickte zu ihm auf.
Dann strafften sich Rolands Schultern und er wandte sich wieder Juro zu. „Du hast recht“, sagte er. „Es ist zu gefährlich. Aber lass mich es tun, ok? Das bin ich ihm irgendwie schuldig.“
„Ok“ sagte Juro nach einem kurzen Zögern und ließ die Waffe sinken. „Aber tu es. Jetzt.“
„Ja, Sir“, sagte Roland, ließ die Hand an seinen Gürtel fallen und bevor Juro richtig begriff, was er vorhatte, stieß Roland die Käfigtür auf.
Obwohl der Brahim von dieser Entwicklung sicher überrascht sein musste, zögerte er keine Sekunde. Mit einem Satz katapultierten sich 300 Kilo Muskeln, Fell und Krallen genau an die Stelle, an der Roland stand... gestanden hatte. Der Mann wich aus und schwang seine Streitaxt in einem knappen Halbbogen auf das Gesicht des Brahims zu. Noch in der Luft warf sich das Alien zur Seite. Die Schneide fuhr in seine Schulter. Als ihn der schwere Körper von den Füßen holte, schaffte es Roland gerade noch, den Griff in der Hand zu behalten. Der Aufprall trieb ihm sämtliche Luft aus der Lunge. Er winkelte die Beine an und stieß den Brahim von sich. Riss die Axt aus dem Fleisch. Da war der Brahim wieder über ihm. Roland spürte, wie sich die Krallen in seine Oberarme bohrten, seinen Hals ritzten, aber er konnte die Axt zwischen sich und das fauchende Maul bringen. Brennendes Sekret tropfte ihm ins Gesicht.
Da heulte das Alien auf und griff sich an den Hinterkopf. Es roch nach verbranntem Fell. Juros Schuss hatte ihn nur gestreift, doch genügte der Moment der Unachtsamkeit, dass Roland ausholen und seinem Gegner den Schädel vom Scheitel bis zum Halsansatz spalten konnte. Er sprang zurück, bevor er unter den Massen begraben werden konnte, stolperte auf dem unebenen Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf.
Einen Moment lang wurde die Welt dunkel, bunte Lichter explodierten vor seinen Augen, doch Roland biss die Zähne zusammen und kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Gleich darauf beugte sich Juro über ihn, das Gesicht wutverzerrt. „Wahnsinnig!“, zischte er und riss die Plombe von einer Dose Wundspray. Roland sog scharf Luft ein, als es auf seiner Haut brannte. „Er hatte eine faire Chance“, sagte er.
Juro sah aus, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Verdammt seist du und dein Scheiß-Ehrgefühl!“


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