Ein "Wilder" vor dem Tribunal

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Amy:

Es ist ja nicht so, dass ich nicht in der Old Way's Society meine Handynummer hinterlassen hätte. Dass sie nicht wüssten, wie sie mich sonst erreichen könnten. Es gefällt mir einfach nicht, wenn ich plötzlich zwischen meinen Noten einen Brief der Gilde finde. Ich wusste es doch: Kaum lasse ich mich wieder mit den Magiern ein, glauben sie, über mich bestimmen zu können. Jetzt ist ihnen ein Meister abhanden gekommen, den sie für das Tribunal gegen den Wilden brauchen, und ich soll ihn mit Cassie und Fjuna suchen. Weil sie selbst damit beschäftigt sind, die Welt zu retten oder so. Die Arroganz dieser Leute! Als ob nicht tausende ganz normale Menschen jeden Tag ihren Teil dazu beitragen, dass die Welt läuft! Natürlich weiß ich - oder ahne ich -, dass vieles, was in den Nachrichten zu sehen ist, nur der äußere Schein ist, sich die wahren Kämpfe ganz woanders abspielen, die Macht der Menschen begrenzt ist. Aber ich versuche, nicht daran zu denken. Wer sagt, dass die Scheinwelt nicht das echte Leben ist und die Rangeleien der Magier nur ein Spiel?

Ich war also entschlossen, den Brief zu ignorieren. Ich schulde der Gilde nichts, ich habe ihnen einen Gefallen getan. Und ich bin kein Detektiv. Aber am nächsten Morgen standen dann Cassie und Fjuna vor der Tür. Angeblich nur, um Kaffee zu trinken. Als erstes haben sie sich als Kaktus-Flüsterer betätigt und das kleine vertrocknete Ding zum Blühen gebracht, das ich mir mal gekauft hatte in dem Versuch, meine Wohnung etwas grüner zu gestalten. Soll ich ihnen die Tür vor der Nase zuknallen? Da käme ich mir wie ein Arschloch vor. Die beiden sind einfach so arglos und gehen gleich davon aus, dass ich ihre beste Freundin bin. Und ehe ich es mich versehe, erzähle ich ihnen von Jayamuna und wie wir uns "einvernehmlich getrennt" haben. Nun ja, stimmt ja in gewisser Weise: Eine mächtige Magierin wie sie hätte auch einen Zorn auf die undankbare Schülerin entwickeln und sonstwas mit mir anstellen können, statt mich einfach enttäuscht zu entlassen. Ich habe ihr herrisches Wesen und ihre Art, mich als Hausmädchen zu missbrauchen, nur so lange ertragen, bis ich genug gelernt hatte, meine Kräfte zu kontrollieren. Damit nicht wieder so was passiert wie damals im Konzert... Kaum zu glauben, dass die Frau mit dieser Einstellung zum Cult gehört, der es ja eigentlich nicht so hat mit Hierarchie. Andererseits war sie vielleicht doch genau das, was ich brauchte, im Nachhinein betrachtet. Immer noch besser als von anderen Cult-Mitgliedern in wilde Sexorgien verwickelt zu werden. Nein, das hab ich den Mädels nicht alles erzählt. Das weiß niemand, obwohl meine alte Meisterin und vielleicht auch David einiges davon geahnt haben mögen. Meinen beiden Gästen waren diese Gründe alle herzlich egal: Cassie meinte, sie sei einfach neugierig, was mit diesem Christopher Marshall los sein könnte, dass er nicht zu erreichen ist. Und Fjuna rügte meine negative Einstellung und sprach von Harmonie und gutem Charisma. Hippies, ich wusste es doch! Gut. Wenn es dazu beiträgt, diese unseelige Sache mit dem Wilden schneller über die Bühne zu bringen, schauen wir uns halt Marshalls Wohnung an!

Schon in Cassies quietschbuntem Bus hab ich die Entscheidung bereut. Das Ding ist leider ein Original-Hippie, also irgendwann in den 60ern gebaut oder so, und im Gegensatz zu Fjuna hat er keinen Zeitsprung gemacht - er ist einfach so alt und wird wahrscheinlich nur von Farbe zusammengehalten. Ja, richtig gehört, das ist meiner Meinung nach die einzige "logische" Erklärung für Fjunas seltsame Reaktionen: Dass sie eine Zeitreise gemacht hat, aber offenbar, ohne es selbst zu merken. Deshalb wage ich es auch noch nicht so ganz, sie damit allzu deutlich zu konfrontieren. Wer weiß, was der Schock mit ihr anstellt, so... wie sie halt ist? Na ja, das ist nicht mein Problem, auf jeden Fall nicht jetzt. Jetzt war mir erst mal richtig schön schlecht von dem Geruckel und die Ohren klingelten mir von der Kakophonie der Verschleißteile. Als wir vor dem Haus standen, zeigte ein Blick in Marshalls Wohnung, dass der Mann an seinem Schreibtisch zusammengebrochen war. Cassie klingelte und gab uns bei der Hausmeisterin als Studenten aus, die sich wundern, dass der Professor nicht öffnet. Wie hätten wir sonst erklären sollen, dass wir schon wissen, dass man den Krankenwagen rufen muss?

Ich dachte ja auch erst mal an Herzinfarkt oder so etwas, aber bei Magiern ist es ja nie so einfach. Als ich nach seinen Gedanken tastete, war da nämlich - nichts! Eine leere Hülle, dieser Körper, ein sehr unheimliches Gefühl! Fred, der verkappte Telefonseelsorger, konnte uns nur raten, die Verbindung zu suchen und Marshall "zurückzuholen". Ist das mein Meistermagier? Können die sich nicht um sowas kümmern? Dass Fjuna ständig die Drogen des alten Dschungel-Forschers testen wollte, machte es auch nicht leichter. Nun, die Computer-Magier bestellten den Krankenwagen wieder ab und ich schickte die Nachbarin dank Tin Whistle-Musik nach Hause mit dem guten Gefühl, alles Notwendige getan zu haben. Gott, in 24 Stunden hab ich so viel gezaubert wie im ganzen Jahr davor nicht! Nun, es ist ein mächtiges Gefühl, mit Hilfe der Musik Menschen meinen Willen aufzuzwingen... Ich genieße es manchmal und verachte mich dafür. Schließlich stellte sch die Katze als der Schlüssel heraus: Das Tier scheint schon von sich aus intelligent zu sein, jedenfalls war sie erleichtert, als ich endlich darauf kam, ihre Gedanken zu lesen - denn in ihrem Körper versteckte sich Marshalls Geist! Ein alter Feind von ihm hatte offenbar einen Brief geschrieben (eine Art Lied, wie viel mächtiger doch Zusammenarbeit macht - was ist das für ein Nazi?) und ihn beim Lesen gleichzeitig geistig angegriffen. Marshall versuchte sich zu wehren und wurde in die Katze geschleudert, wo er ganz verwirrt und verängstigt saß. Ich hätte gern meine Klarinette dabei gehabt, doch auch so gelang es mir, ihn zu beruhigen und zurück in seinen eigenen Körper zu führen. Es gefällt mir nicht, dass er der Gilde nichts von dem Angriff erzählen wollte - die Präsenz, die den Brief geschrieben hat, fühlte sich mächtig und gefährlich an und offenbar wird der alte Mann nicht allein mit ihr fertig. Aber es ist sein Kampf - und er schuldet uns jetzt einen Gefallen.

Jedenfalls konnte endlich das Tribunal gegen Liam Jenkins stattfinden, wie unser Wilder heißt. Ich gebe zu: Er sah schon sehr bemitleidenswert aus - die Woche Arrest im Gildehaus kam ihm wie ein Jahr vor, im wahrsten Sinne. Tja, dass können Magier tun - gruselig! Ich hatte zwar gleich die Kapuze des geliehenen Mantels aufgesetzt, um nicht gleich erkannt zu werden, aber ich konnte natürlich nicht einfach meine Klappe halten. Statt einfach nur eine Zeugenaussage zu machen, mussten wir unseren Senf auch noch mit dazu geben. Endlich waren wir drei uns mal einig in unserer gemeinsamen Empörung, wie respektlos Jenkins mit anderen Lebewesen... ähm, Darseinsformen umgeht. Und Cassie und Fjuna haben auch mein Entsetzen geteilt, mit welcher Gelassenheit die älteren Magier über eine mögliche Hinrichtung des Jungen sprachen. In diesem Kreis ist das Mittelalter nie vorbei, wie es scheint! Letztlich wurde ihm eine Probezeit bei den Euthanatos gewährt. Das heißt, er wird letztlich an Amethyst hängen bleiben. Hätte nie gedacht, dass das nette Mädel eine Todesmagierin ist. kein Wunder, dass sie hinterher Tanzen gehen und ihren Kopf frei bekommen wollte. Im "No Future" haben wir dann noch eine Steve, Nadja und ihren Computer Bill kennen gelernt. Virtuelle Adepten wahrscheinlich. Ich hab verloren, ganz eindeutig. Ich dachte, wenn erst mal das Tribunal vorbei ist, hab ich wieder Ruhe. Stattdessen lerne ich mehr Magier kennen, als ich je kennenlernen wollte. Ich renne mit offenen Augen ins Verderben, nur weil ich ein paar nette Mädchen nicht beleidigen will! Der Himmel sei mir gnädig!



Cassie:

Heute Abend war die monatliche Kommune-Sitzung. Die von uns allen geliebte Stadtverwaltung hatte eins ihrer dringenden Anliegen an unsere Gärtnerei: Umbau der Abwasseranlage. Na super. Da winkte uns wieder ein wochenlanges Hin-und-her darüber, welchen Weg, welchen Baum und welchen Komposthaufen die mit ihren Baggern von A nach B räumen würden. Konnten die nicht einmal etwas so lassen, wie es war, ohne es von Grundauf zu modernisieren? Oder wenigstens mal über eine Alternative nachdenken? Inzwischen gibt’s ganze Dörfer, die eigene Biokläranlagen besitzen! Und weil ich das in den Raum warf, bekam ich auch gleich den Auftrag auf die Nase gedrückt, dem Typen vom Bauamt, einem gewissen Mr. Richards, diese Idee zu unterbreiten. Wozu haben wir denn einen ganzen Campus voll Studenten? Die werden eingespannt, und dann gibt’s ein Studentenprojekt, bei dem die Stadt nicht nein sagen kann :-)


Aber Mr. Richards muß erstmal warten, das Gildehaus geht vor. Die haben uns tatächlich einen Auftrag erteilt. Wird auch Zeit, dass die uns Frischlinge mal was machen lassen. Also sind Finni und ich mit dem Kommune-Bus zu Amy gefahren, erstmal auf einen Kaffee, und dann natürlich, um sie abzuholen und zu der Wohnung von dem alten Herrn zu fahren, der sich nicht mehr meldet und den sie für das Tribunal brauchen.
Amys Wohnung ist ja sowas von kahl! Die hat nur eine einzige Pflanze – einen vor sich hinmickernden, völlig vereinsamten Kaktus! Wir haben das arme Kerlchen erstmal ein bißchen aufgepäppelt und ich hab ihm versprochen, dass wir ihm demnächst Gesellschaft mitbringen. Amy war nicht so begeistert davon, den alten Professor zu suchen. Ich glaub, die spielt lieber Klarinette, als sich zu viel mit den Gildemagiern abzugeben. Aber eigentlich ist sie ganz nett. Auch wenn sie die ganze Zeit über unseren Bus gemeckert hat. Ja mein Gott, der klappert halt ein bißchen. Das kommt eben, wenn man schon ein paar Jahrzehnte auf der Karosserie hat. Aber er fährt doch, also was solls? Außerdem ist er bunt wie nur was, auf den lass ich nichts kommen!
Das mit dem alten Professor war schon eine komische Geschichte. Ist echt seltsam, wenn da eine leere Hülle vor dir liegt – ein Körper, der irgendwie noch lebt, aber wo kein Mensch, keine Seele mehr drin ist. *schüttel* Ich konnte ihm so gar nicht helfen. Der Mann steckte nämlich in seiner eigenen Katze fest, aber Amy konnte ihn wieder in seinen Körper zurückholen. Keine Ahnung, warum er dann darauf bestand, die Geschichte mit dem Brief und seinem Lieblingsfeind geheimzuhalten. Aber wenn er meint … dann sollen sie das halt unter Männern regeln. Hoffentlich geht er nicht dabei drauf.

Und dann standen wir wieder einmal im Gildehaus, bereit für das Tribunal. Ein bißchen Respekt hatte ich schon vor dieser Veranstaltung. Bei solchen offiziellen Terminen war ich bisher noch nie dabeigewesen. Aber größtenteils war ich einfach nur neugierig, wie so etwas ablief und was mit unserem „Findelkind“ passieren würde.
Bei diesem komischen Umhängen wurde ich allerdings skeptisch. Warum sollte ich mein Gesicht oder meine Stimme verstecken? Wenn ich was sag, dann kann das ruhig jeder wissen, dass es von mir kommt. Amy paßte sich zwar an die Kleidungsnorm hier an, aber wenigstens Finni hatte auch keine Lust darauf und so waren wir am Ende die einzigen, die in der Runde keine Kapuzen trugen. Dass diese Methode wohl auch die Magier-Form der geheimen Abstimmung über das Urteil sicherstellen sollte, ging mir erst später auf, änderte aber nichts an meiner Meinung. Nur fragte ich mich in dem Moment schon, wer unter diesen Mützen so alles steckte. Abgesehen von unserem Oberboss Bennett, dem alten Professor und Amethyst, die sicher auch dabei war.
Dann schickten sie diesen Liam Jenkins rein, der ziemlich mitgenommen aussah, und mir wurde erstmal ganz anders. Hier gibt’s Leute, die können dich eine Woche lang wegsperren und dir kommt es wie ein ganzes Jahr vor? Ach du Sch*** Na hoffentlich baue ich nie irgendeinen Mist, bei dem man mir so eine Strafe aufbrummt. Ich wüßte nicht, wie ich das aushalten sollte. Und ehrlich gesagt fand ich es auch etwas übertrieben. Klar, der Junge hatte einen Denkzettel verdient, aber das war schon heftig. Und wer weiß, was sie noch mit ihm angestellt hatten. Amethysts Leute hatten bestimmt so ihre Methoden …
Und dann gabs ernsthaft Leute, für die wäre sogar Hinrichten eine Option? Hallo, wo sind wir denn hier? Da hätte ich echt gerne gewußt, aus wessen Kapuze das kam. Zum Glück waren meine zwei Mitstreiterinnen auch wenig erbaut von solch radikalen Entscheidungen.
Aus einigem, was Liam dann so erzählte, wurde ich auch nicht hundertprozentig schlau. Wie war das? Er hätte die Energie von diesen Geistern gebraucht, deswegen ist er da ständig hin? Kann man nach Energie süchtig werden? Um das zu verstehen, muss man wahrscheinlich einer von diesen Euthanatos sein. Da hab ich auch nicht schlecht gestaunt, als sie ihn am Ende dieser Tradition zugeteilt haben. Ob er da wirklich reinpaßt? Da muß er aber noch einiges an Verantwortungsgefühl und Selbstbeherrschung lernen. Bisher war er ja nur am Rumexperimentieren, ohne einen Funken drüber nachzudenken. Aber ich denke mal, er kriegt das hin. Hoffe ich jedenfalls. Sonst siehts mies aus. Dann nehmen sie ihm nach dem einen Jahr, das er auf Bewährung gekriegt hat, seine Kräfte oder … darüber will ich lieber gar nicht erst nachdenken. Mir gefällt weder das eine noch das andere.
Und es ist ja nicht so, dass ich nicht auch schon mal irgendwas gemacht hätte, um erst hinterher festzustellen, was ich mir damit gerade einhandle … *pfeif* Aber selbst in der normalen Welt kommen sie einem nicht gleich mit dem elektrischen Stuhl. Einige Ansichten und Traditionen unserer magischen Welt kann ich gerade nicht so ganz nachvollziehen. Was jetzt mit den Geistern in dem Megastore und dem Internetbuch und diesem interessanten Keller wird, ist auch noch nicht ganz raus. Da werd ich wohl in einer ruhigen Minute mal drüber nachdenken müssen.

PS: Finni hat einen Brief von ihrem alten Mentor ausgehändigt bekommen. Irgendwas krudes steht drin, nicht mal Amy ist so recht daraus schlau geworden. Und sie ist ernsthaft ein paar Jahrzehnte aus der Zeit gefallen und jetzt erst wieder aufgetaucht. Irre! Deswegen kann sie mit den normalsten Dingen nichts anfangen. Ich glaub, mit ihr müssen wir noch so einiges nachholen!
Und ich hab mich im „No Future“ (was für ein negativer Name, ey!) mit einem sprechenden Computer unterhalten. Sachen gibt’s! Aber er blinkt grün, wenn er redet, das ist mir schon mal sympathisch.



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