Halbe Siege, treuloser Friede

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Amy:

Ja ja, ich weiß, dass ich diejenige war, die niemals den Kampf gegen die Technokratie aufnehmen wollte, die sich aus allem raushalten wollte, zu mächtig erschien - und erscheint - mir das Netz, mit dem diese Mafia die ganze Welt eingesponnen hat. Aber ich war bereit, mit diesen Öko-Terroristen-Werwölfen zusammen zu arbeiten, wenn es bedeutete, Hunderten das Leben zu retten. Und jetzt? Jetzt fühle ich mich enttäuscht und schmutzig, verwirrt und wütend. Dabei lief alles so gut!

Bis zu dem Moment, an dem ich Seymour Jackson und seinen Schrank am Straßenrand stehen sah, hatte ich mir einreden können, ich wäre auf dem Weg zu einem ganz normalen Konzert. Nein, nicht wirklich. Denn bisher habe ich vor einem Konzert nie Cem behexen müssen, damit er mir keine Fragen über die Wahl meiner Kunden stellt. Und wie sollte ich vergessen, dass zeitgleich Fjuna mit den Werwölfen ins Umbra überwechseln und das Abbild des Gherkin dort angreifen würde. Oder dass Cassie und die anderen Magier nicht weit von unserer hübschen Kammermusik entfernt Wache standen für den Fall, dass sich der Krieg in unsere Welt ausdehnt. Aber ich wollte nur an eins nach dem anderen denken, um mich nicht verrückt zu machen. Aber Cem sagte gleich, als ich ins Auto stieg, wir müssten noch jemanden abholen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Art als Mensch getarnter Cyborg-Troll mit magischem Säbel und dem herzigen Namen "Sniper", den mir unser undurchsichtiger Mr. Jackson als Bodyguard an die Seite geben wollte. Nicht nur Steve hat sich gewundert, wie der Kerl damit an den Sicherheitskontrollen der Schweizer Bank vorbei kam. Wozu brauchte ich diese stumme Abschreckung im Hintergrund überhaupt? Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich auch in Gefahr sein könnte! Schließlich fand meine Schlacht auf einer anderen Ebene und in der hintersten Front statt. Den blöden Bankern einzuimpfen, dass sie in der Krise besser Bescheidenheit demonstrieren und das Gebäude verkaufen sollten - was ist das im Vergleich zu der Lebensgefahr, in die sich die anderen begaben?

Technisch waren wir perfekt, Sandra und ich. Aber meine Lieblings-Pianistin konnte nicht wissen, dass ich mit dem Konzert trotzdem nicht zufrieden war, denn seinen eigentlichen Effekt erfüllte es nur so lala. Wohl weil ich mit den Gedanken zu häufig bei dem war, was draußen vor sich ging, konnte ich mich nicht so in Trance versetzen, als dass meine Magie ihre Wirkung voll hätte entfalten können. Zum Glück war Steve da und tat mit der Technik sein Bestes, um die Botschaft zu unterstützen. Von all dem, was Fjuna und Cassie später erzählten, bekam ich nicht das Geringste mit - Geister, riesige Kampfpflanzen, Hubschrauber ohne Rotoren und Raketen mitten in der Londoner Innenstadt!

"Wir müssen alles abblasen", sagte Nathaniel, der plötzlich im Konferenzraum auftauchte, wo das Konzert stattfand. Ich traute meinen Ohren nicht und Sniper - der den alten Kumpel seines Bosses offenbar nicht kannte - wollte dem fremden Magier fast an die Haut. Doch es war klar, dass der Gildenchef es ernst meinte - und sehr eilig hatte, zurück ins Umbra zu kommen und dort das Geschehen zu stoppen. Deshalb stellte ich weiter keine Fragen, sondern beendete abrupt das Konzert und stürmte mit meinem riesigen Schatten im Schlepptau aus dem Gebäude. Der meinte nur trocken, mit seinem Monster-Messer könne er einen Kampf auch ganz leicht beenden... Draußen bot sich mir ein seltsames Bild: Vor St. Helen's Bishopsgate, in dem sich die Magier verschanzt hatten, bedrohte Seymour Jackson einen Mann und eine Frau vor einem Auto mit der Waffe. Am Eingang zu der Zeltkonstruktion, die an die IRA-Bomben Anfang der 90er erinnert, stand Cassie in Alarmbereitschaft. Beide starrten ziemlich entgeistert auf Soledad, die fröhlich auf die Fremde zustürmte und sie umarmte. Cassie sagte später, sie hätten die Dame für eine Technokratin gehalten und waren deshalb mehr als überrascht über die Freundschaftsbekundungen unserer Euthanatos. Ich konnte das ja nicht wissen und war erst mal erleichtert, hinter Cassie Fjuna zu sehen, die offenbar heil aus dem Umbra zurück war. Weil Jackson einen etwas nervösen Eindruck machte, ging ich schneller, um Nathaniels Botschaft zu überbringen. Im Vorbeigehen sah ich das Gesicht des Mannes, auf den Jackson seine Waffe richtete - es war David!

Nun, die Situation erschien mir zu sensibel, als dass ich auf meine Verblüffung Rücksicht nehmen konnte - ich hab ihn nie "einfach so" getroffen... Aber erst wollte ich Jackson beruhigen. David seinerseits schien nicht weniger überrascht und umarmte mich plötzlich. Ich wusste gar nicht, was ich darauf erwidern sollte, ich stand nur da und ließ es geschehen, betäubt von Erinnerungen. Keine Technokraten, was mir klar war, aber was wir den anderen noch beibringen mussten. Vielmehr Vertreter des ältesten Gildehauses in London - die aber einen Vertrag hatten mit der Technokratie, den Gherkin zu schützen! David! Wie kann er so etwas zustimmen, nach all dem, was passiert ist? Das war mein erster Gedanke, und als wir Abends mit allen Magiern an einem Tisch saßen, um über das "Missverständnis" zu reden, wuchs die Wut in mir immer mehr. All unsere Arbeit zunichte gemacht, weil die Magier erstens nicht miteinander reden können, und weil sie zweitens mit dem Feind paktieren! Wie kann es sein, dass die Old Ways Society und der Circle nichts davon wissen, wenn sich mitten in der Londoner Innenstadt ein Spalt zur Hölle öffnet? Warum kann dieses ach so tolle Londoner Gildehaus (als ob es keine anderen gäbe, diese Snobs!) niemanden darüber informieren, dass der Gherkin in Absprache mit ihnen gebaut wurde, um die Dämonen zu bändigen und auszusperren. Dass sie sogar gemeinsam mit der Technokratie dieses furchtbare Ding im Umbra verteidigten? Kein Wunder, dass die Werwölfe so klaglos den Schwanz einklemmten, als sie erfuhren, warum der Kampf abgebrochen werden musste, so kurz vor dem Sieg. Was hätten sie alles anrichten können - was hätten wir alles anrichten können! Also wieder alles beim Alten, alle Mühe umsonst, alle umsonst in Gefahr gebracht.

Ich wollte nur kotzen, wenn ich daran dachte, dass die Technokraten ihre Finger schon bis in die Gildehäuser ausgestreckt hatten. Und diese Green-Tussi vom Gildehaus meint noch so arrogant: "Ms Rossi, lesen Sie mal die Geschichte der Technokratie nach." Wie kann sie es wagen! Diese Kuh kann noch niemanden, der ihr nahe steht, an diese Verbrecher verloren haben, sonst würde sie nicht so reden. Wahrscheinlich ist sie eine eiskalte Schlampe, der es völlig egal ist, wie viele Menschen um sie herum fallen. Mich muss man nicht belehren, dass es manchmal vernünftiger ist, mit dem Feind einen Vertrag zu schließen. Ja, das ist alles logisch. Nein, ich weiß keine bessere Lösung. Und deshalb fühle ich mich so hilflos, weil ich der Macht der Technokratie geradezu beim Wachsen zusehen kann und will nur... und kann nie... Ach, fuck, wer verlangt denn von mir, immer die Beherrschung zu behalten? Ich bedaure es nicht, diese Bande von Verrätern stehen gelassen zu haben. Als mir David nachkam, wollte ich ihn zuerst nicht anhören. Aber er findet immer die besten Worte, um mich zu beruhigen. Zu allen wichtigen Wendepunkten meines Lebens war er da, der letzte, den ich noch habe. Egal, ob wir uns Jahre nicht sehen... Eines Tages muss er mir alles sagen - wenn ich stärker bin und weniger Angst habe.



Cassie:

Die Werwölfe ließen sich doch tatsächlich überreden, das Hochhaus nicht in die Luft zu jagen, sondern statt dessen den Ort im Umbra zu schwächen, während von draußen Amy mit einem Spezialkonzert den Bankmanagern eine neue Intuition ihres Gebäudes einimpfen sollte.
Bei der großen Einsatzplanung wußte ich zuerst gar nicht so recht, wohin mit mir. In Amys Konzert konnte ich nicht viel tun. Und um mit den Werwölfen und dem Boss ins Umbra zu gehen, da war Finni die weitaus bessere Wahl. Mit Geistern kenn ich mich nicht aus. Also blieb ich unten bei der Bodentruppe in einem Zelt in der Nähe des Gherkin. Ein bißchen mulmig war mir schon. Bis auf unsere Aktion in der Gärtnerei hatte ich noch keine magischen Kämpfe ausfechten müssen. Ich hatte keinen Schimmer, was heute passieren würde.
Während Elisabeth, unsere Verbena-Chefin, und ich am Zelteingang Wache hielten, geschah erst einmal ne ganze Weile gar nichts. Und dann – ploff – hing da wieder ein Hubschrauber zwischen den Häusern. Keine Ahnung, wie der ohne Rotoren überhaupt fliegen konnte. Die Dinger machen einen wahnsinnig! Elisabeth verwandelte sich in eine Adler – wow, das mal können! – und war schon auf direktem Weg zu den Hubschrauberfenstern. Ich mußte unten stehenbleiben und versuchte erst einmal, die Insassen am Steuer zu blenden und sie ein bißchen zu „rösten“, indem ich die Temperatur im Pilotenraum in die Höhe trieb. Half nicht viel. Elisabeth lenkte sie da schon mehr ab, indem sie mit Klauen und Schnabel auf sie einhackte, nachdem sie erstmal durch die Scheibe war. Irgs. Da war ich doch ganz froh, unten zu stehen und mir nicht mehr davon ansehen zu müssen als nötig.
( Fortsetzung folgt :-) )


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