Lang lebe der König

aus Die Bibliothek, der freien Wissensdatenbank
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Amy:

Nach all dem, was ich in diesen letzten Tagen gesehen und getan habe, wird mich so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen, glaub ich. Ich fühle mich erstaunlich gelassen. Obwohl ich meine Mutter getroffen habe. Obwohl die Technokraten uns in einem Paralleluniversum geholfen haben. Obwohl wir Liam vom Thron gestürzt haben und er nun sterben wird. Klar, da sind so viele Fragen, die unbeantwortet geblieben sind. Aber ich fühle mich momentan mehr mit mir im Reinen als in den ganzen vergangenen Monaten, seit ich wieder die Magie in mein Leben gelassen habe. Ich spüre die Macht in mir wachsen und das ist mir überraschenderweise gar nicht so unangenehm. Die anderen Gildemagier fangen endlich an, uns mit etwas Respekt zu behandeln, uns nicht mit dämlichen Briefen rumzukommandieren, die plötzlich zwischen Notenblättern auftauchen. Wir haben ja auch einiges geschafft. Die Verbindung von Many Eyed zu unserer Welt vorübergehend gekappt, zum Beispiel. Und dieses mächtige Wesen zu unserem Feind gemacht, höchstwahrscheinlich. Dabei wussten wir die Hälfte der Zeit kaum, was wir taten.

Benny hatte uns tatsächlich zur Kommune zurückgebracht. Dachten wir zumindest, bis Cassie ihren Bus holen wollte und feststellte, dass dort stattdessen eine Kutsche steht. Liam war weg, aber die verrückte Frau Doktor konnten wir erst mal ordentlich verschnüren. Alles war wie ein seltsames Zerrbild des Londons, das wir kennen: Als ob es technisch vor 200 Jahren stehengeblieben wäre, ein London, wo Vampire in ihren Gebieten Jagd auf Menschen machen dürfen und Wer-weiß-was-noch in der Dunkelheit lauert. Wir brauchten eine Weile und Hilfe von Käpn Harris - dazu später mehr - um zu begreifen, dass wir in Liams Quiet gefangen saßen - genug Paradox hat der Kerl garantiert gesammelt. Ich versuchte ihn zu orten und fand ihn: Er saß im Tower of London auf dem Thron, eine Krone auf dem Kopf und ein gehässiges Grinsen auf dem Gesicht, als er mich bemerkte. Kaum zu glauben, dass ich mir um seine Verletzungen Sorgen gemacht hab. Arschloch! Cassie hat es erst mal geschafft, den Mr. Jackson dieser Welt ordentlich anzupflaumen, weil er durch die Gärten patrollierte. Er wirkt hier noch unheimlicher und weniger menschlich als bei uns, ein hoher Herr, der sichergehen wollte, dass es seinen Leibeigenen gut geht. Er warnte uns, draußen herumzulaufen, und verlangte, dass wir uns am nächten Tag bei Gildenchefin Green melden sollten. Nun, wir hatten wenig Lust, so lange zu warten, um dann von irgendwelchen offiziellen Vertretern gefangen genommen und zu König Liam gebracht zu werden. Obwohl wir völlig ausgepowert waren - ich schaffte es nicht mal, uns ins St. John's zu teleportieren - flohen wir zu Fuß, die verschnürte Doktorin im Schubkarren. Hätten wir besser auf Jackson gehört! Denn als nächstes liefen wir so einem Dandy in die Arme, der sich als Vampir herausstellte. Ehe ich es mich versah, lag ich vor ihm auf den Knien und konnte nur hilflos mit ansehen, wie er sich die Lippen leckte und nach dem besten Platz suchte, seinen Biss anzusetzen. Meine schwache gedankliche Gegenwehr war vollkommen nutzlos, um dieses Raubtier aufzuhalten - aber der Impuls langte, um ihm zu beweisen, dass wir Magier sind. Grummelnd ließ er von uns ab, offenbar wollte er keinen Ärger mit Green.

Wir fanden Zuflucht in einer Art Kirche, wo in unserer Welt der Circle hätte residieren sollen. So müde ich war, ich konnte ohnehin nicht schlafen und übernahm die erste Wache. Ich wurde den beunruhigenden Gedanken nicht los, dass so die Welt aussehen könnte, in der die Magier die Technokratie vor langer Zeit besiegt haben. Und der Mensch nun ganz unten in der Nahrungskette steht. Diese kalte Präsenz den Vampirs... Vielleicht ist es wirklich so, dass die Errungenschaften der Technokratie den Menschen wenigstens eine ausgeglichene Chance geben, sich gegen solche Wesen zu verteidigen. Und gegen die Magier, die auch oft genug den Respekt vor Leben vermissen lassen... Aber vielleicht betrachte ich die Diktatur der Technokraten jetzt auch zu rosig - nur, weil ich sie gewöhnt bin. Nun war es nicht mehr weit zu dem Gedanken, dass meine Eltern in dieser Parallelwelt noch leben könnten. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu suchen. Ich kann gar nicht sagen, was ich fühlte, als in meinen Gedanken das Bild auftauchte: Meine Mutter, älter, als ich sie in Erinnerung habe, sitzt da auf einem Schiff, das in der Themse ankert - die Ikarus, der Name des Raumschiffes, auf dem sie ums Leben kam... Bei ihr Käptn Harris, Nadja - aber auch die Kapitänin des Raumschiffes der TS und Cassies guter Freund Mr. Richards! Ich verstehe es immer noch nicht genau, wie dieses Quiet funktioniert. Ist es nur mit Leuten bevölkert, die Liam kennt? Woher kennt er emine Mutter? Was hat er in meiner Erinnerung gesehen? Oder macht sich diese Welt selbständig, entwickeln die Charaktere ihr Eigenleben? Leben sie genauso wie wir? Und woher wissen wir dann, dass unsere die "echte" Welt ist? Ich weiß, es existieren viele Universen parallel, aber es ist beunruhigend zu denken, wenn nur eine bestimmte Person aufwacht, werden wir alle aufhören zu existieren... Nun, die se Gruppe Magier in dieser Welt war letztlich bereit, uns jede Hilfe zuteil werden zu lassen, gerade WEIL sie hofften, dass diese Welt aufhören würde zu existieren und wir eine bessere schaffen konnten - unsere. Irre, oder? Ein Wunder, dass ich überhaupt noch bei Verstand bin.

Zunächst aber ortete Käptn Harris meinen Gedanken"angriff" und war natürlich misstrauisch. Vor allem, weil meine Mutter sagte, sie habe keine Tochter, weil sie in diese Welt keine Kinder setzen würde. Das schmerzte, aber erleichterte mich auch: Hier gibt es offenbar keine "Entsprechung" von mir. Harris forderte mich auf, zu ihm zu kommen, weil die Gedankenverbindung abgehört werden könne. Das klang natürlich dicke nach einer Falle, aber was hatten wir schon für eine Wahl? In Nadjas Quiet waren wir der Traumlogik bedenkenloser gefolgt, aber hier wirkte alles realer und gefährlicher - vor allem, weil der Herr dieses Universums uns nicht wohlgesonnen war. Als erstes am nächsten Tag spürte uns Mr. Jackson wieder auf und stellte uns einen Bodyguard an die Seite: ein blondes Mädel namens Alisson, barfuß und mit dem natürlichen Aussehen einer Bäuerin, aber auch nicht wirklich menschlich. Wenn ich dran denke, wie schnell sie ihr Messer an Cassies Kehle hatte, als diese sie fragte, ob Jackson ein Vampir sei. Wir wissen es immer noch nicht - und wie zuverlässig können schon Informationen sein, die in Liams Geist entstanden sein könnten? Aber wieder einmal hatten wir den Mafiaboss auf unserer Seite, ein Glück. Denn überall starrten uns Zeichnungen von Augen an und warnte uns Alisson vor Riesenkackerlaken und einem Buch, das alle infiziere...

Aufs Boot wollte Alisson lieber nicht mit, da Harris zwar Jackson um Hilfe gebeten hatte, uns zu eskortieren, aber ihr "Schwarzer Banner" sonst nicht mit dem "Orden der Vernunft" zusammenpasse. Orden der Vernunft - so hieß die Technokratie früher! Und wir auf dem Weg zu ihrem Schiff. Die weiterhin bewusstlose Doktorin ließen wir um Ruderboot, weil die schlechten Schwingungen der Marodeurin den Käptn um sein Schiff fürchten ließen. Meine Mutter wusste mit mir wenig anzufangen und wir verlegten uns aufs Ignorieren - was soll ich zu einer Frau sagen, die ich liebe und vermisst habe, die mich aber nie kennengelernt hat in dieser Welt? Nun, hier war Liam schon König, seit die Römer wegzogen - und endlich fiel bei uns der Groschen, dass dies sein Quiet sein musste. Harris - hier mit der Kapitänin verheiratet - fand es ein "interessantes Gedankenexperiment", dass er nicht existieren könnte. Trotzdem, eine Information war wohl auch in unserer Realität gültig, denn wer sollte besser darüber Bescheid wissen als Liam: Das Buch, das er einst im Internet fand und das ihn erweckte, ist vom "Marodeur Many Eyed", wie Reverend Richards ihn nannte (Reverend, hah!), ausgegeben worden, die Menschen zu vergiften und auf seine Seite zu ziehen. Durch seine Augen habe ich darin gelesen, der Autor heißt "Garvin Bremer". Den müssen wir uns merken... Schließlich schmiedeten wir den Plan, mit Harris' Gasballon zum Tower zu fliegen, uns zu Liam durchzuschlagen und ihn dazu zu bringen, aus seinem Quiet aufzuwachen. Vorher beschlossen wir, die marodeurin zu befragen, bevor wir uns mit Gepäck belasten. Fjuna gefiel die Aussicht nicht, dass wir sie eventuell töten müssten. Aber dazu kam es nicht. Weil sie auch nicht ins Quiet gehörte, hofften wir darauf, dass sie mit uns übertreten würde, wenn alles zusammenbrach - auch wenn wir sie am anderen Ende der Stadt zurückließen. Viel haben wir eh nicht rausgekriegt aus ihr, außer, dass Many Eyed sie zu sich holen und "perfektionieren" wollte. Sie hat sowieso irgendwas mit ihrem Körper angestellt, dass er zum großen Teil künstlich ist. Klingt mehr nach was technokratischem, oder? Gruselig!

Ich weiß immer noch nicht, ob es ein Traum war - ein Traum im Quiet? Oder ist da alles eins? - , aber so oder so, die Flöte war echt und hilfreich. In der Nacht vor unserem Sturm auf den Tower hörte ich plötzlich Musik und ging an Deck. Auf einem Boot kam Eutherpe - die Muse? - herangefahren. Mein Avatar habe sie hergeleitet, sagte sie, sie wäre interessiert an meiner Musik. Eigentlich hätte ich misstrauischer sein müssen - was ist das für ein Wesen? Ist sie wirklich so uneigennützig? Sie gab mir eine Flöste als Leihgabe für unseren Kampf. Sie hätte mich allerdings etwas weniger auffällig markieren können als mit einem Tatoo auf dem Oberarm. Das zeigte sich allerdings erst hier Daheim. Da muss ich mir was einfallen lassen, wenn ich mein ärmelloses Konzertkleid anziehe. Oberarmtatoos wirken mir zu billig. Aber egal. Dort auf dem Schiff war ich ganz ruhig - verhext? Aber ich denke, sie will mir wirklich helfen. Traumlogik halt.

Schließlich machten wir uns auf zum Tower. Zum Glück kam noch Andrew mit, ein Journalist, der Kampfpamphlete gegen King Liam schreibt. Ich habe ihn mittlerweile in der Realität wieder gesehen, er ist ein Fan meiner Musik. Seltsam, oder, dass er mir nie aufgefallen ist? Jetzt haben wir zusammen Blut vergossen in einer anderen Dimension, und er weiß es gar nicht. Denn blutig wurde es! Erst mal hetzte Amethyst - eine gefügigere, sexy gekleidete Amethyst, Liam ist so ein Lustmolch - drei Hunde auf uns, die uns einige Probleme bereiteten. Ich glaube, wir hatten alle zu wenig Ruhe. Zum Glück hatten wir Andrew und sein Skalpell und zwei Magierinnen, die heilen können! Im Thronsaal erwartete uns Liam mit seinem Greifen-Schoßtier. Es war sehr viel schwieriger als bei Nadja, ihm die Widersprüche in seinem Quiet aufzuzeigen. Ich hatte ja gedacht, ihn an seinen Gefühlen für die echte Amethyst packen zu können - aber was letztlich die Lösung war, war deren Giftspritze! Klar, der einzige "reale" Gegenstand, der was mit ihm zu tun hatte! Ich hatte bei den Hunden schon den netten Trick ausprobiert, die Zeit verlangsamen zu lassen, aber ich vergesse trotzdem noch, was ich mit Magie alles tun kann. Also überlegte ich noch, ob ich ihm die Spritze selbst in den Hals rammen oder mit Korrspondenz rüberschicken sollte - da hatte ich schon ein Schwert in der Brust stecken. Also konnte ich nicht mehr viel tun außer zu bluten, bei Bewusstsein zu bleiben und Fjuna die Spritze zuzuwerfen. Danach ging alles in Schmerz und Wirren unter, aber die anderen haben es geschafft, uns ins Gewächshaus zu verfrachten - unser eigenes, ein Glück! -, die Frau Doktor mitzuziehen und mich nebenbei noch fast völlig zu heilen. Cassie und Fjuna sind einfach großartig.

Der gute Fred wurde sehr nervös, als er merkte, dass wir da zwei gefährliche durchgeknallte Magier bei uns hatten und total am Ende waren und rief erst mal Verstärkung. Liam (trotz Giftspritze nicht tot, nur bewusstlos) und seine Kollegin werden nun getestet. Sind sie keine Marodeure, werden sie getötet und können wiedergeboren werden, sind sie welche, wird ihre Seele zerfetzt. Beides schlimme Aussichten, aber meine Fähigkeit, Mitleid mit dem Kerl zu haben, ist auf dem Nullpunkt, seit ich sein Schwert in meiner Brust stecken hatte. Gedankliche Entschuldigung an Amethyst. Sie hat uns letztlich gerettet. Noch vor ein paar Wochen hätte ich mich in Panik verkrochen und die Magier verflucht. Aber jetzt gibt es zu viele Fragen, die ich beantwortet haben will. Many Eyed hat einen Rückschlag erlitten, alle Exemplare des Buches sind aus dem Internet gelöscht, die Raumstation zerstört. Aber was ist mit dieser "Maschine", die in verschiedenen Städten der Weolt eingesetzt werden soll, wie der Plan auf der Raumstation sagte? Wer gehört noch zu Many Eyed`s Dienern? Ja, vielleicht habe ich wirklich gelernt, dass die Technokratie das kleinere Übel sein kann. Aber ein alter Hass ist schwer abzulegen. Wenigstens kommt mir unsere Magier-Welt nicht mehr gar so trostlos vor wie sonst manchmal.


zurück zu Andrea's Magus Runde