Mamas Spezialsoße

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05.08.2114

Norina:

Hach, ich hab schon ganz vergessen, wie das ist: Das ganze Haus platzt aus den Nähten, ein Geschrei, das man meint, die Menschen müssten sich jeden Moment gegenseitig an die Kehle gehen - aber gleichzeitig sind alle so liebevoll zueinander. Ich habe direkt Heimweh bekommen. Nur: Selbst wenn ich zurück in die Toskana ginge, ich könnte das nie wieder haben. Meine Familie hat die Tür für immer zugeschlagen an dem Tag, an dem ich nach Rom aufbrach. Dass ich mit meiner zweiten Familie ebenfalls gebrochen habe, kann das trotzdem nicht wieder gut machen.

Vielleicht hab ich deshalb den Loredans diesen wahnsinnigen Rabatt gegeben. Jetzt deckt die Bezahlung gerade mal die Ausgaben, die ich für die Eisherstellung aufwenden muss. Von den nächtlichen Stunden an der Maschine und den ganzen Nachmittag, an dem mir der Verkauf entgeht, ganz zu schweigen. Aber was soll's? Das Geschäft läuft in diesem heißen Sommer besser denn je. Und Andrea, der kleine Aufschneider, ist einfach zu niedlich mit seinem: "16 ist der wichtigste Geburtstag im Leben eines Mannes". Er ist ein guter Kunde - und ich freue mich schon richtig darauf, einen ganzen Nachmittag Teil seiner Geburtstagsparty zu sein, mittendrin in diesem Gewimmel aus Geschwistern, Cousins und was weiß ich noch für Menschen. Donna Loredan ist eine so temperamentvolle Frau! Wie sie in der Küche stand, den Kochlöffel wie ein Zepter schwang und Anweisungen durch das ganze Haus brüllte! Das Idealbild einer italienischen Mama, einfach wunderbar! Natürlich wusste sie nichts von der Eis-Großbestellung, die ihr jüngster Sohn - angeblich "nur für dich, Mama!" - für seine Party bei mir getätigt hatte. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir Andrea nichts von dem Rabatt sagen, damit sie ihn in den kommenden Jahren noch damit aufziehen kann, wie sein ausgefallener Geschmack, ausgerechnet die beste Eismacherin der Stadt für einen ganzen Nachmittag exklusiv zu mieten, die Familie in Schulden gestürzt hat.

Ich hab's also absolut nicht bedauert, dass ich heute diesen kleinen Abstecher ins Hause Loredan gemacht hab. Obwohl ich mich dabei fast verraten hätte! Schuld war natürlich Andrea. Der musste mitten im Küchenchaos auf die Leiter steigen und anfangen, die Soßenspritzer an der Decke zu übermalen - die nur deshalb dort gelandet waren, weil seine Mama sich so über ihn aufgeregt hat. Obwohl da schon einige Stellen nachträglich gestrichen aussahen, also war es wohl nicht das erste Mal. Jedenfalls stieß Donna Loredan, die hinten natürlich keine Augen hat, gegen die Leiter und kippte den Topf mit dem kochenden Spaghetti-Wasser in ihre Richtung. Unwillkürlich habe ich das gemacht, was ich jeden Tag tue: Die Hand ausgetreckt und das Wasser abgekühlt, bevor sich die arme Frau böse verbrühen konnte. Klar hätte es unauffälligere Lösungen des Problems gegeben - das Wasser wieder zurückschwappen lassen oder so -, aber ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Zum Glück ist die Fähigkeit der Menschen, alles zu ignorieren oder umzuinterpretieren, was nicht in ihr Weltbild passt, nahezu grenzenlos. Donna Loredan war ganz verwirrt - schließlich muss sie als Köchin genau gemerkt haben, dass das Wasser bereits am Kochen war. Aber sie hat sich sofort selbst die Erklärung geliefert, dass sie sich wohl geirrt haben muss, als sie plötzlich pitschnass, aber komplett unverbrüht am Herd stand. Und Andrea war zum Glück zu sehr damit beschäftigt, nicht von der Leiter zu fallen, um was zu bemerken. Puh, ein Glück! Ich hab ja keine Ahnung, wie diese liebe Familie zum Thema Hexenmeister steht... Aber dieses Soßenrezept sollte Donna Loredan lieber in den Müll werfen, das hatte einfach einen seltsamen Nachgeschmack.



Andrea:

Liebes Tagebuch,
Ich weiß, in meinem letzten Eintrag habe ich dir versichert, nun viel zu alt fürs Tagebuchschreiben zu sein. Doch was mir passiert ist, kann ich unmöglich für mich behalten.
Alles begann bei den Vorbereitungen für meinen 16. Geburtstag. Wie du dir vorstellen kannst, gibt es nichts, aber auch gar nichts, was aufregender für mich wäre. Zumindest dachte ich das bis heute. Dass bei der ganzen Geschichte auch noch eine Eisverkäuferin der Auslöser für das Chaos ist, damit hätte wohl niemand gerechnet - am allerwenigsten ich. Denn ich, Andrea Loredan, Nachfahre einer alten venezianischen Familie, die es jetzt in unsere geliebte Landeshauptstadt Rom verschlagen hat, ich habe ein Gespür für alles Mysteriöse.
Wie peinlich ist es dann, bei besagter Eisverkäuferin fast täglich Limetteneis zu kaufen und nichts davon mitzubekommen? (So etwas kann ich wirklich nur meinem Tagebuch anvertrauen.) Jedenfalls muss es wohl ein Wink des Schicksals gewesen sein, dass ich auf die brillante Idee kam, die Eisverkäuferin für meine Geburtstagsfeier zu bestellen. Es ist aber auch unmöglich im August in Rom ohne Eis zu überleben. Klar, auch während der anderen Monate ist es drückend heiß, aber ich bilde mir ein, dass es im August am schlimmsten ist.
In der Schule habe ich mir schon viel über Temperaturschwankungen in Europa anhören müssen. In Deutschland oder Polen zu Beispiel kann es an einem Tag schneien und am nächsten Tag sind 30°C im Schatten. Da haben wir in Italien mit unserem langanhaltenden Sommer echt Glück. Seit fast 50 Jahren gab es keinen Moment, in dem es unter 20°C warm war.
Aber zurück zur Eisverkäuferin. Die tauchte nämlich unangekündigt, und im Moment des größten Durcheinanders, bei uns zu Hause auf.
Wegen meines Geburtstags sind alle meine Geschwister hier, zudem Cousins und Cousinen und alles, was man sich an lärmender Verwandtschaft vorstellen kann. Mamma hat alle Hände voll zu tun. Sie ist sogar noch herrischer als sonst. Franco, einer meiner älteren Brüder, meint, sie sei ein wahrer Despot. Er soll sich mal nur nichts auf solche Fremdewörter und sein Studium einbilden. Mit seinen schwitzenden Füßen hat er noch jede Frau vertrieben, da bringt ihm auch die Streberei nichts. (Ich trage immer vorsorglich Sandalen, damit ich mich nicht für irgendeinen Fußgeruch schämen muss, falls ich der Frau meiner Träume begegne. Man kann ja nie wissen.)
Ich sollte jetzt aber endlich die Geschichte erzählen, denn es ist schon spät und für morgen hat Mamma bestimmt schon wieder eine Aufgabenliste vorbereitet. Vermutlich muss ich noch mehr machen als sonst, denn nach dem Ereignis heute, hat sie mich in der Mangel ... und zwar für immer.
Die Eisverkäuferin kam also vorbei, weil sie die Lieferung besprechen wollte. Ich vergesse übrigens immer ihren Namen, aber ich hab den gestern auch zum ersten Mal gehört. Unglaublich, dass ich sie als Stammkunde immer nur "Die Eisverkäuferin" nenne. Sie ist eigentlich ganz nett und als sie vorbeikam, konnte sie ja nicht ahnen, dass Mamma vom Glück der Eisbestellung gar nichts wusste.
Wenigstens war ich es, der die Tür aufgemacht hat. Bei den ganzen kauzigen Verwandten hätte das peinlich werden können. Ich bin der normalste in der Familie, auch wenn ich den Gast gleich mit Worten überhäuft habe. Du weißt ja, wenn ich nervös bin, rede ich wie ein Wasserfall. Die Eisverkäuferin ist aber nicht dumm und hat gleich erkannte, dass in unserem Haus gerade die Hölle los ist.
Als ich sie dann doch, nach anfänglichem Zögern, zu Mamma in die Küche geführt habe, wäre ich schon wieder fast auf Florentina getreten. Dieses Mal habe ich meine zweijährige Nichte noch rechtzeitig gesehen. (Der Vater des Kindes sollte sich echt besser um sie kümmern, aber wem sag ich das ...)
Ein bisschen ungläubig sah die Eisverkäuferin schon aus, als ich ihr erklärte, dass Florentina am liebsten im Dreckwäschekorb (und nie in einem Korb sauberer Wäsche) sitzt. Dort habe ich die Kleine auch gleich hingetragen, denn in der Küche ist sie nicht so gut aufgehoben. Zurzeit ist da sowieso niemand gut aufgehoben.
Mamma Mussolini war sehr nett zu unserem Gast, zu mir allerdings weniger. Sie hat mich wieder einmal angeschrien, nachdem sie das mit der riesigen Bestellung erfahren hat. Mamma hat mich nicht nur bei meinem zweiten Vornamen genannt, (den wohl jeder hassen würde, weil niemand freiwillig "Peppone" heißen möchte), sondern auch den Kochlöffel so schnell aus dem Spaghetti-Soßentopf gezogen, dass alles an der Decke gelandet ist. Ich war schon immer dafür, die Küche Tomatenrot zu streichen, so oft wie da Soßenspritzer landen.
Es war ganz klar, dass ich nun gleich in den Keller geschickt wurde, um den Eimer mit der weißen Farbe zu holen. Es war schließlich meine Schuld, wenn Mamma sich aufregte. Dazu muss man sagen, dass wir nicht ganz so viel Geld haben ... Aber so ein Eiswagen an meinem Geburtstag kann uns doch nicht gleich in den Ruin treiben. Das denkt Mamma nämlich. Und dann noch dieser Kommentar: "Solange du kein Geld herzaubern kannst, musst du sparsam sein."
Ich sehe einfach darüber hinweg, denn mit ein paar Schmeicheleien (die mir einfach im Blut liegen) kam ich doch noch zu meiner Eislieferung.
Das beste geschah aber danach: Ich komme also mit der Farbe wieder in die Küche, (nicht ohne auf dem Weg Florentina eine von Francos Stinkesocken aus dem Mund zu reißen) und beginne die Decke zu streichen. Dafür muss ich immer auf einen Stuhl steigen, denn auch wenn Mamma immer schimpft, dass ich jeden Tag mindestens drei Zentimeter wachse, so groß bin ich dann doch noch nicht.
Ich war Mamma ziemlich im Weg. Unsere Küche ist klein und es stand wieder mal alles voll. Mamma hatte einen Topf mit kochendem Wasser auf dem Herd, den sie, gerade als ich malerte, woanders hintragen musste.
Und da passierte es: Mamma stieß ausversehen mit dem Rücken gegen meine Beine. Wir gerieten aus dem Gleichgewicht. Ich blickte nach unten und mein Herz blieb fast stehen, als das kochende Wasser aus dem Topf direkt auf Mammas Brust zu schwappen drohte.
In diesem Moment streckte die Eisverkäuferin ihre Hand aus, direkt in das Wasser hinein und noch bevor es Mamma verbrühen konnte, wurde es kalt.
Der Dampf verschwand schlagartig. Der Inhalt des Topfes ergoss sich auf Mammas Kleidern und wir hielten alle den Atem an.
Mamma, weil sie sich wunderte, dass das Wasser sich so schnell abgekühlt hatte.
Die Eisverkäuferin, weil sie selbst geschockt von ihrer Tat war.
Und ich, Andrea Loredan, weil ich erkannte hatte, dass etwas Mysteriöses auf mich wartete ...


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