Planet der Engel

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Eine Crossover-Geschichte zu Siguriels Schar von Larrine. Achtung! Aus „Engel“-Sicht ganz böser Spoiler!

„... Muss ich ausgerechnet dir als Chefstratege erklären, dass das geplant und systematisch war? Die Dämonen werden immer geschickter und wenn wir nicht langsam anfangen, sie zu verstehen ...“
„Lass das bloß nicht Schwester Tari hören!“, zischte Juro und warf einen nervösen Blick über die Schulter. „Lass das keinen hören! Ich will’s nicht mal hören!“
Roland senkte seine Stimme zu einem Knurren. „Irgendwann werden wir alle uns damit auseinander setzen müssen, auch die Kirche, ob’s ihr passt oder nicht ...“
„Ich denke, es ist sicher, hier zu landen“, sagte Bill und die beiden fuhren auseinander wie ertappt. „Wobei es vom Gefahrenpotential her auch keinen Unterschied machen würde, wenn wir mitten in einer Hauptstadt landen. Die Scans zeigen, dass es auf dem Planeten so gut wie keine Technik gibt. Nur ein paar leistungsstarke Rechner in einer guten Handvoll Städte, aber selbst die haben nur beschränkt Kontakt nach außen. Sonst hätten die ihre durchgeknallten Satteliten, die diese Zerstörungsschneisen durchs Land ziehen, schon selbst abgeschaltet. Keine Luftabwehr, kein Kommunikationsnetz, nicht mal ein verdammtes Radio! Wahrscheinlich hauen die sich noch gegenseitig mit Steinen den Schädel ein.“
„Gut“, sagte Kapitän Smetana. „Aber wir haben besseres zu tun, als mit zu hauen. Wenn die Bewohner dieses Planeten seit Jahrhunderten keinen Kontakt zum Imperium hatten und auf einen solch unterentwickelten Stand sind, könnte unsere Ankunft eine Panik auslösen. Was meinen Sie, Sir?“ Er drehte sich zu Juro um, der mit Roland an der Tür zur Brücke stand.
„Sie sagen es, Käpt‘n“, sagte Juro. „Wir müssen nicht unbedingt auffallen, aber treffen Sie Vorsichtsmaßnahmen, falls wir entdeckt werden sollten.“
„Die Hinterwäldler könnten auch dämonisch korrumpiert sein“, sagte Bill. „Ah, Anwesende natürlich ausgenommen, Roland.“
„Ha, ha“, sagte Roland. „Vielleicht betrachtet auch irgendeine Aliennation den Planeten mittlerweile als ihr Territorium, während wir die Siedler so zweitausend Jahre lang vergessen haben.“
„Auf jeden Fall ist Vorsicht geboten“, sagte Juro. „So oder so, die Reparaturen können nicht warten, wir brauchen dringend Wasser und es wird auch so schon schwer genug, den Rest der Flotte wieder zu finden. Leiten Sie den Landeanflug ein, Käpt’n.“
„Jawohl, Sir.“ Smetana wandte sich dem Steuercomputer zu.
Ko-Sun, der erste Navigator, war völlig übermüdet in sein Quartier gewankt, nachdem er die „Lans 2“ (Achmed und Ali waren nicht sehr kreativ in der Namensgebung ihrer Schiffe) gerade noch so aus dem Chaos hatte herausschaffen können. Irgendwo am Arsch des Universums, dachte Juro. Aber wenigstens in einem Stück. Er schauderte in seiner Rüstung, als er an den Angriff der Dämonen dachte, an die Funktionen, die nacheinander ausfielen, die plötzlichen elektrischen Entladungen in den Mannschaftsquartieren, das Wasser, das in sämtlichen Rohren kochte und verdampfte ... Ganz zu schweigen von den geistigen Angriffen. Juros Schädel schmerzte jetzt noch. Roland hatte tiefe Ringe unter den Augen. Allen Schutzzeichen zum Trotz hatte er so manche Nacht im Chaos Besuch bekommen. Wenn er morgens in die Messe gewankt kam, hatte er auf Juros fragenden Blick nur müde abgewinkt. „Langsam können wir ihn auf die Gehaltsliste setzen. So was Anhängliches...“ Juro fand das nicht komisch, aber Roland setzte sich nun schon so lange mit diesem speziellen Dämon auseinander, dass er gegen dessen Tricks gefeit schien. So lange Schwester Tari mit seiner Beichte zufrieden war, machte sich Juro keine Sorgen.
Kapitän Smetana und seine Crew hatten sich in diesem Chaos im wahrsten Sinne des Wortes als erfreulich besonnen und zuverlässig erwiesen – zumindest zum größten Teil. Smetana hatte den Maschinisten, dessen Arme sich plötzlich in knochige Schwertklingen verwandelt hatten, ohne Zögern erschossen, noch bevor die Sicherheit eintraf. Juro war sich sicher, ihm im Kampf jederzeit sein Leben anvertrauen zu können – deshalb hatte er Smetana für sein erstes Kommando ausgewählt. Doch konnte Juro noch immer nicht ganz einschätzen, wie der Käpt‘n reagieren würde, sollten sie eine ihrer Sonderaktionen abziehen, die irgendwie immer ... passierten. Besonders, wenn Roland in der Nähe war.
Juro warf seinem Freund einen Seitenblick zu. Wenigstens hatte Roland auf ihn gehört und nach dem Dankgottesdienst mit Schwester Tari für ihre gelungene Flucht aus dem Chaos seine Rüstung anbehalten. Roland beobachtete auf dem Außenmonitor, wie die grün-braun-blaue Masse des Planeten immer näher rückte, und wippte auf den Fußballen hin und her wie ein Kind, dass es kaum erwarten kann, seine erste Runde auf dem Trike zu drehen. Juro konnte ihn verstehen: Egal, was sie da unten erwartete, es konnte nur der reinste Urlaub sein im Vergleich zu dem, was hinter ihnen lag.

Lun und sein Team verließen das Schiff und machten sich gleich an die Reparaturen, während ein Trupp Bewaffneter die Umgebung sicherte. Die Bordkanonen standen ganz oben auf der Fehlerliste. Roland blieb am Eingang der Laderampe stehen und ließ seinen Blick über die grasbewachsene Ebene schweifen, die Smetana als Landeplatz ausgesucht hatte. Er spürte förmlich, wie seine Augen, sein ganzer Körper das Grün aufsogen. Er trat unruhig von einem Bein auf das andere. Nach so langer Zeit auf einem Eisklumpen lechzte alles in Roland danach, Gras unter den Füßen zu spüren und Vögel singen zu hören. Aber ihre Landung hatte sämtliche Vegetation in einem sauberen Umkreis von einigen hundert Metern verbrannt, selbst die Luft schmeckte nur nach Rauch und Metall. Am Horizont aber meinte Roland Hügel ausmachen zu können ...
In diesem Moment tauchte Juro mit einem Zehnertrupp Gerüsteter hinter ihm auf, darunter Sandy, die Scharfschützin, die Betsy McGurk als ihre Nachfolgerin ausgebildet hatte. Der einzige, der keine Rüstung trug, war Späher Karrim, der Roland in seiner Lautlosigkeit beunruhigend an eine gewisse Profikiller-Rentnerin erinnerte, aber seine Waffe höchstens zur unmittelbaren Selbstverteidigung einsetzte. „Ich dachte, es kann nicht schaden, eine kleine Erkundungstour zu machen“, sagte Juro und grinste. „Wenn du versprichst, deine Schuhe anzubehalten, darfst du gerne mitkommen.“
Roland dachte kurz darüber nach, seinem Freund einen leichten Schlag auf den Hinterkopf zu geben, entschied sich aber dagegen, weil er die automatische Schließ- und Alarmfunktion von dessen Kampfpanzer nur zu schmerzhaft in Erinnerung hatte. „Wenn ich verspreche, sogar die ganze Rüstung anzulassen, krieg ich dann ein Eis, Papi?“
Juro lachte. „Aber klar, mein Kleiner.“
Es tat so gut, seine Beine zu strecken! Einfach zu laufen, den Blick nicht versperrt von irgendwelchen Wänden! Roland drehte sich um und blickte zum Schiff zurück. Es sah so winzig aus. Nach allen Seiten erstreckte sich die grün-braune Ebene. Da zu seinem Deal mit Juro nicht gehört hatte, den Helm zu schließen, genoss Roland die sanfte Briese auf seinem Gesicht und in den Haaren. Auch die Sicherheitsleute bewegten sich nicht übermäßig vorsichtig in dem Vertrauen, dass sie einen Angriff auf viele hundert Meter Entfernung würden sehen können. Roland sah in ihren Gesichtern die gleiche Begeisterung, der relativen Enge des Schiffs entkommen zu sein, die er selbst spürte.
„Da in den Hügeln müsste es laut Bills ersten Scans Wasser geben, das wir später mit der ‚Lans‘ aufnehmen können“, sagte Juro. „Aber sicher ist es besser, wenn du eine Probe nimmst, ob es wirklich trinkbar ist.“
Roland grinste seinen Kumpel an. „Wer zuerst da ist“, sagte er und lief los.
Sie kamen so gut voran, dass sich Roland fragte, ob der Planet wohl weniger Anziehungskraft hatte, als sie es alle gewöhnt waren. Nachdem sie die erste überschäumende Energie losgeworden waren, achteten die 13 Menschen wieder mehr auf ihre Formation und behielten die Gegend im Auge. Als sie die Baumreihe erreichten, schickte Juro Karrim voraus.
Während sich der Rest der Truppe ein wenig langsamer an den Aufstieg machte, fiel Roland auf, was die ganze Zeit gefehlt hatte: Er hörte keinen Vogelgesang. Na ja, dachte Roland. Vielleicht gibt es hier keine Vögel. Oder sie singen nicht, die Evolution hat sich anderes entwickelt. Aber tief im Innern glaubte er nicht daran. Bisher hatte es auf jedem Planeten mit Terra-ähnlicher Vegetation, den er gesehen hatte, Vögel gegeben. Roland merkte, wie seine gute Laune abebbte. Plötzlich machten sich die vielen alptraumhaften Nächte bemerkbar: Roland wollte auf einmal nur noch ins Bett.
Er ließ seinen Helm zuschnappen. Juro drehte sich überrascht zu ihm herum. „Hab kein gutes Gefühl“, murmelte Roland seinem Freund über Funk zu. Juro nickte und die Augen hinter seinem Visier begannen von Anzeige zu Anzeige zu huschen, die nur er in seiner taktischen Rüstung sehen konnte. Der Erkundungstrupp schloss sich enger zusammen.
„Meine Sensoren arbeiten hier nicht sauber“, sagte Juro und seine Stimme klang angespannt, „aber da sind irgendwelche Lebensformen hinter der Hügelkuppe. Karrim!“
Doch in diesem Moment tauchte der Späher schon zwischen ihnen auf. Er sah ein wenig bleich aus. „In dem Tal dort findet ein Kampf statt“, sagte er. „Wenn Sie mir folgen, kann ich Sie zu einer Stelle führen, an der wir kaum entdeckt werden dürften, Sir.“
„Was ist los, Karrim?“, fragte Juro.
„Sir, ich ... das müssen Sie sich selbst ansehen, Sir!“
Juro zögerte und Roland wusste genau, warum: Sie waren hier mit einem kaputten Schiff gestrandet und es gehörte garantiert nicht zu ihrer Mission, sich um die vergessenen Siedler des Imperiums zu kümmern. Natürlich hatten sie vorgehabt, Meldung zu machen, damit eine entsprechende Expedition auf den Weg gebracht werden konnte, aber ... „Lass uns einfach mal die Lage checken“, sagte Roland. „Wir können uns ja noch immer unauffällig zurückziehen.“
Juro nickte. „Gut, Karrim, geh voran.“
Roland meinte, auf dem Gesicht des Spähers eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Widerwillen zu lesen, bevor er ihnen ein Zeichen gab, sich zu ducken, und voranschlich.

Juros Verstand brauchte eine Weile um zu begreifen, was er da sah. Beim Einen, Bill hatte recht! Zwar kämpften sie nicht mit Steinen, doch sahen ihre einfachen Waffen kaum wirkungsvoller aus angesichts ihrer Feinde. Im ersten Moment glaubte Juro, die Anfänge einer Slane-Invasion zu sehen ... Aber diese Dinger waren zu verschieden in Größe, Gestalt, Kampfstil, um gewöhnliche bösartige Aliens zu sein. Ja, am ehesten glichen sie Insekten, aber Insekten, die von einem Heer Dämonen besessen und verformt worden waren. Wahrscheinlich ist genau das passiert, dachte Juro.
Was Karrim jedoch so aus der Fassung gebracht hatte, waren die Wesen, die sich den Monstern in den Weg gestellt hatten. Zwei lagen bereits am Boden, doch die anderen drei kämpften wie Berserker, um die Übermacht an Feinden aufzuhalten. Es waren ... Kinder! Ungewöhnlich groß, ja, aber Kinder, kaum älter als neun, zehn Jahre! Doch es war nicht allein die Schnelligkeit, die Stärke und das Geschick, die sie im Kampf bewiesen – jedem einzelnen sprossen weiße Schwingen aus dem Rücken, Flügel mit der Spannweite eines Jagdfliegers!
Juro legte den Kopf in den Nacken und spähte durch das Geäst, um den braun gebrannten Jungen zu beobachten, dessen schwarzer Zopf hinter ihm her wehte, als er in das Kampfgetümmel ein- und wieder heraus tauchte wie ein Fisch im Wasser. Juro hatte schon viele gute Piloten gesehen, doch diese Wendungen, Drehungen und Überschläge hatten nichts mehr mit Können zu tun – der Junge lebte das Fliegen, wie ein Vogel! Jetzt erst fiel Juro auf, dass er gleichzeitig mit einem seltsamen Gerät hantierte, einer Art gebogenem Stab ... Weil er sich jedoch unglaublich schnell bewegte, brauchte der Betrachter eine Weile um zu erkennen, dass er damit Stöcke schießen konnte, die sich lautlos in die Nacken der Angreifer bohrten: eine primitive Schusswaffe!
Der Anführer war anscheinend das blonde Kerlchen mit bunt bemaltem Brustpanzer, der seine Lanze trotz des Chaos um ihn herum mit Sinn und Überlegung immer genau dort einsetzte, wo es gerade nötig war. Ein einfaches Stück Holz und Metall gegen Feinde, die zum Teil zehnmal so groß waren wie er! Obwohl der Junge keinen Ton von sich gab, hatte Juro den Eindruck, als ob er die anderen irgendwie koordinierte – vielleicht war er Psioniker?
Da blitzte etwas auf, mit einem Zischen und Aufheulen wichen die Monster für den Bruchteil einer Sekunde zurück und Juro hatte im dichtesten Gewühl zum ersten Mal einen klaren Blick auf den dritten Kämpfer. Obwohl er aus dieser Entfernung die feinen Gesichtszüge unter der kurzen Igelstachel-Frisur nur kurz ausmachen konnte, war sich Juro sicher, dass es ein Mädchen war, ganz in Schwarz gekleidet. Sie schien den Schleim und das Blut, das ihre Arme hinunter lief, genauso wenig zu bemerken wie die Flammen, die von ihrem Schwert züngelten und ihr über die Hände leckten. Flammen? Tatsächlich! Es schien eine Art Plasmaschwert zu sein, nur dass es tatsächlich brannte. Das Mädchen schwang die Waffe mit einer Leichtigkeit, die Juro zuletzt bei Bridget hatte bewundern können, und fuhr durch ihre Gegner, als böten sie nicht mehr Widerstand als die Luft, die sie auf ihren Flügeln empor trug.
Wahrscheinlich hatte es nur wenige Sekunden gedauert, bis Juro sich wieder so weit gefasst hatte, dass er sich nach seinem Trupp umsehen konnte. Alle standen wie erstarrt und sahen dem unglaublichen Kampf zu. Schließlich machte Roland eine schwache Bewegung in seine Richtung. „Juro“, krächzte seine Stimme über Funk. „Ja“, sagte Juro. Es war eine Sache, sich aus den Streitigkeiten eines Planeten herauszuhalten, aber eine ganz andere, tatenlos zuzusehen, wie diese tapferen Kinder von Chaos-Mutanten überrannt wurden.
In diesem Augenblick stießen das Mädchen und der Schütze wie aus einem Mund einen Schrei aus. Es war ein Schrei voll seelischer und körperlicher Schmerzen. Es war der Schrei, den Juro in seinem Kopf gehört hatte, als er vor ewigen Zeiten den Schmerzverstärker getestet hatte. Als er herumfuhr, sah er gerade noch, wie ein schleimiges Etwas über dem blonden Anführer zusammenbrach. Bevor es ihn endgültig unter sich begrub, glaubte Juro den Blick auf eine Reihe nadelartiger Zähne zu erhaschen, die sich quer durch seinen Kopf und Hals getrieben hatten. Das schwarze Mädchen hatte sich unwillkürlich in die Richtung ihres gefallenen Kameraden gewandt, als sich die Mandibeln einer spinnenartigen Kreatur von der Größe eines Ochsen in ihre Seite gruben.
Juro zog seine Laserpistole und schoss dem Vieh zwischen die acht Augen. Der Kopf zerplatzte sofort wie eine überreife Frucht. „Angriff!“
Sie mochten in der Überzahl sein und fiese Zähne haben, doch Juros Trupp war im Chaos und auf dem Asteroiden wahrhaftig Schlimmeres begegnet als diese Mutanten. Kurz nachdem die Gerüsteten ausgeschwärmt waren und das Feuer eröffnet hatten, war der Kampf auch schon beendet. Die Talsohle war übersät mit stinkenden Kadavern.
Roland bahnte sich zielstrebig einen Weg zu der Stelle, an der sie zuletzt die schwarz gekleidete Kämpferin gesehen hatten. Juro zog seine Rüstungssensoren zu Rate, die ihm verrieten, dass das einzige unverletzte Kind außer Sicht hinter den Bäumen auf der Stelle flatterte. Wahrscheinlich haben wir ihn genauso überrumpelt wie die Monster, dachte Juro. „Sandy, behalt den Himmel im Auge“, sagte er.
Die beiden Kinder, die bereits zu Boden gegangen waren, bevor ihr Trupp eintraf, waren eindeutig tot. Sie lagen am Rand des Schlachtfelds so nah beieinander, als ob sie versucht hätten, sich gegenseitig den Rücken zu decken. Juro betrachtete das runde Gesicht des kleinen Mädchens, das mit einer Hand noch immer ein Messer – ein Messer! – umklammerte, während es die andere schützend auf eine kunstvoll verzierte Ledertasche gelegt hatte. Ihr Begleiter war fast so groß wie Juro selbst und sehr bleich. Sein Kurzschwert hatte ihm aber nur wenig genutzt gegen die Übermacht. Seufzend stieg Juro über einige kleinere Leichen libellenartiger Viecher hinweg, um den Schleimwurm von dem Anführer herunterrollen zu können. Ein kurzer Blick genügte, um ihn den Entschluss fassen zu lassen, heute nichts mehr zu essen. Er richtete sich auf und schaute zu Roland hinüber, der neben dem Mädchen kniete, und sein Visier geöffnet hatte. Auch seine Hände waren frei – eine spezielle Modifikation seiner Rüstung, damit er besser an Verletzten arbeiten konnte. „Wie sieht’s aus?“, fragte Juro über Funk, während er sich zu seinem Freund durchschlängelte. Einzige Antwort war ein abwesendes Brummen. Ah, sie lebt also noch.
Roland war so auf seine Patientin konzentriert, dass er nicht bemerkte, wie scheinbar aus dem Nichts der junge Schütze über ihm auftauchte. Sandy und er schossen gleichzeitig, noch während Juro der Warnruf auf den Lippen erstarb. Der angespitzte Stock streifte Rolands ungeschützte Wange. Als Juros Freund überrascht den Kopf hochriss, krachte der Angreifer wenige Meter neben ihm zu Boden. „Verdammt!“, schrie Roland, sprang auf und sah sich mit funkelnden Augen um.
Sandy ließ die Waffe sinken. „Entschuldigen Sie, Sir, ich war nicht schnell genug ...“
„Meine Güte, das war ein Stock!“, brüllte Roland. „Wir müssen für ihn ausgesehen ham wie die da. Was hätte er schon tun können gegen unsere Rüstungen?“
Juro trat auf seinen wutschnaubenden Freund zu und packte ihn am Unterarm. „Roland, du blutest“, sagte er nur und nickte Sandy zu.
Roland hob die Hand an die Wange und betrachtete dann das Blut an seinen Fingerspitzen. „Ein Kratzer“, knurrte er. „Erst schießen, dann reden. Wahrhaftig McGurks Schule!“
Juro sah, wie ein Anflug von Zorn über das Gesicht der Scharfschützin huschte. „Sandy hat alles richtig gemacht und dir vielleicht das Leben gerettet, so schnell, wie der Kerl schießen konnte“, sagte er laut. „Es ist blöd gelaufen, dass wir ihm nicht klar machen konnten, dass wir keine Feinde sind. Aber wenn er das nicht selbst schnallt, nachdem wir seine Gegner hier weggepustet haben, ist das auch nicht zu ändern.“
Roland trat ein paar Schritte zu dem gefallenen Angreifer hin, doch der Schuss hatte natürlich perfekt gesessen. Er holte tief Luft. „Entschuldige, Sandy.“
„Da nicht für, Sir.“ Das Gesicht der jungen Frau war wieder ausdruckslos.
Juro blickte auf das Mädchen hinunter. Ihre Kleidung war zerrissen, der Körper schien mehr mit Sprühpflaster als mit Haut bedeckt zu sein. Doch sie atmete flach und diese unglaublichen Flügel waren nur ein wenig zerzaust. Juro konnte der Versuchung nicht widerstehen, kurz über die glatten Federn zu streichen, obwohl er in der Rüstung ohnehin nichts spürte.
„Sie ist stabil genug für einen Transport, aber wir müssen sie so schnell wie möglich in den Tank schaffen“, sagte Roland, als er neben ihn trat. Sein Gesicht hatte diesen störrischen Beagle-Ausdruck angenommen, den Juro nur zu gut kannte.
„Roland ...“ Du weißt, wie teuer das Zeug ist, wir haben keine Zeit ...
„Du willst doch auch hören, was sie für eine Geschichte zu erzählen hat“, unterbrach ihn Roland, noch bevor Juro auch nur einen seiner Gedanken formulieren konnte. „Es schadet nie zu wissen, mit welchen Gefahren wir hier zu rechnen haben. Wer weiß, wie lang die Reparaturen noch dauern?“
Er findet für seine verrückten Ideen immer die logischsten Erklärungen, dachte Juro und seufzte. „Du hast gewonnen.“

„Verdammt“, zischte Roland, während seine Finger über das Bedienpult des Regenerationstanks huschten.
Juro war jedes Mal aufs Neue fasziniert, dass dieser Mann, der eine solche Unfähigkeit im Umgang mit Technik besaß wie kein anderer, den er kannte, mit dem medizinischen Gerät keinerlei Probleme hatte. Zum Glück! „Gibt es Probleme?“ Es hatte eine Weile gedauert, bis sie herausgefunden hatten, wie sich die riesigen Flügel zusammenfalten ließen, damit das Mädchen in die Röhre hinein passte.
„Nein“, sagte Roland. „Sie ist ein Mensch, keine Frage. Die Verletzungen heilen, sogar viel schneller als ich dachte. Das isses ja. So was hab ich noch nicht gesehen.“
Juro beugte sich vor und versuchte, aus den Daten auf dem Bildschirm schlau zu werden. „Erklär’s mir.“
„Na ja ... Die Mutationen sind nicht normal. Ich mein, noch unnormaler als Mutationen sonst. Sie sind weder angeboren noch durch Kontakt mit dem Chaos ausgelöst. Jemand hat kräftig an den Genen rumgebastelt, als sie noch ein Kleinkind war.“ Roland rief eine Darstellung der DNA auf. „So ... jemand hat dafür gesorgt, dass sie größer, stärker und schneller wird, aber gleichzeitig ihre hormonelle Entwicklung gebremst. In spätestens zehn Jahren wird sie damit echte Probleme kriegen. Ganz zu schweigen von den Flügeln. Das müssen Schmerzen für das Kind gewesen sein, als die gewachsen sind! Aber wahrscheinlich erinnert sie sich nicht dran, weil sie sie mit irgendwelchen Drogen vollgepumpt haben, die ihr Gedächtnis blockieren, zumindest vorläufig.“
„Wer, sie?“, fragte Juro, der immer noch versuchte, die Neuigkeiten zu verarbeiten.
„Kann ich hellsehen?“, fragte Roland, dessen Tonfall immer schroffer wurde. „Außerdem krabbeln in ihrem Körper ein Haufen Naniten rum, deshalb heilt sie so schnell und deshalb hat sie auch keine Probleme, dieses Feuerschwert zu schwingen. Sie verbrennt sich einfach nicht so leicht. Ach ja, und sie ist vercybert.“
„Vercybert? Ich dachte, Bill hätte gesagt, die verstehen hier nichts von Technik.“
„Irgendwer offenbar schon“, knurrte Roland. „Schädelrechner, was der so alles kann, das muss unser Computergenie sagen. Aber die Buchse im Nacken ist unter Haut und Fleisch getarnt. Nie im Leben kann sie die ohne fremde Hilfe benutzt haben. Ich kann mir den Aufwand nur so erklären, dass wer-auch-immer die Technik nicht nur vor der Bevölkerung geheim halten wollte, sondern auch vor dem Mädel selbst.“ Jetzt drehte sich Roland von dem Tank weg und sah Juro an. Seine Hände zitterten leicht vor Wut. „Irgendwer hat aus diesem Kind eine perfekte Kampfmaschine gemacht, ihm eine Waffe in die Hand gedrückt und es auf diese Monster gehetzt. Und wahrscheinlich weiß sie nicht mal, dass sie nur ein Mädchen ist, das daheim bei Mami mit Puppen spielen sollte.“
„Wer sollte Kindern so was antun?“, fragte Juro. Er merkte, wie sich alles in ihm gegen diese monströse Vorstellung wehrte. Kinder waren Kinder! Ihr Leben war heilig! „Das macht doch gar keinen Sinn! Warum nehmen sie keine erwachsenen Soldaten, die begreifen, worauf es ankommt, die sowieso schon stärker sind?“
„Wie lang braucht Bill noch für seine komplette Analyse?“, fragte Roland. In diesem Moment piepsten die Anzeigen des Tanks los und er fuhr zu dem Bedienpult herum. „Verdammt“, murmelte er wieder.
„Was jetzt?“, fragte Juro.
„Die blöden Naniten bringen alles durcheinander. Sie wacht bald auf und es sieht nicht so aus, als könnte ich das verhindern.“ Roland aktivierte die Kommunikation. „Drei Mann auf die Krankenstation.“ Beinahe sofort sprang die Tür auf und die Gerüsteten kamen herein. „Wir schaffen sie sofort in die Arrestzelle, sonst zerlegt sie mir wahrscheinlich die teuren Geräte, wenn sie wach wird und merkt, dass sie von lauter Fremden umgeben ist“, sagte Roland, ohne von der Anzeige aufzusehen.
„Gut“, sagte Juro. „Talon, hol die Trage!“

Als sie das Mädchen vorsichtig auf das schmale Bett legten, murmelte es im Halbschlaf irgendetwas und ruckte die Flügel zurecht. Roland glättete ihr das Gefieder, als er noch einmal kurz die Lebensfunktionen überprüfte. Es fühlt sich wirklich an wie die Schwingen von einem Schwan und wahrscheinlich steckt noch mehr Kraft drin, dachte er. Das Staunen aber, das er beim ersten Anblick dieser Kinder empfunden hatte, wurde nun getrübt von dem Wissen, wie es zu diesem Wunder gekommen war.
„Computer“, hörte er Juro hinter sich sagen, „Identifizieren der Sprache, Übersetzungsmodus aktivieren.“
Das Mädchen seufzte noch immer mit geschlossenen Augen und sagte wieder etwas.
„Es handelt sich um Latein, eine der ältesten Sprachen von Terra, ursprünglich Amtssprache der christlich-katholischen Kirche“, informierte der Computer. „Übersetzung: Rodunel, Eigenname vermutet, wie oft willst du mich noch zusammenflicken?“
Das Mädchen fuhr hoch und spannte so ruckartig ihre Flügel auf, dass Roland, obwohl er ein paar Schritte zurückgetreten war, als einziger Nicht-Rüstungs-Träger im Raum darum kämpfen musste, in dem plötzlichen Luftzug das Gleichgewicht zu bewahren. „Sachte, du bist in Sicherheit“, sagte er und verfluchte im Stillen den Übersetzungscomputer, der die Worte völlig nüchtern wiederholte. „Deine Wunden sind geheilt, aber du solltest dich noch schonen.“
Das Mädchen warf nur einen kurzen Blick auf seinen Körper hinunter, den Roland in einen Overall gehüllt hatte, wobei er den Rücken hatte ausschneiden müssen. Ihre Hand griff über die Schulter, wahrscheinlich zu der Schwerthalterung, die nicht mehr da war. „Was ist das für eine Teufelei?“, zischte sie und der Computer übersetzte ungerührt. Sie sprang auf, die Liege knirschte gequält, als sie sich in eine Ecke drückte. „Verdammte Traumsaat!“
„Spezieller Ausdruck, vermutete Bedeutung: ‚Dämon‘“, informierte der Computer.
Roland merkte, dass die drei Sicherheitsleute ihre Waffen gezogen hatten, doch Juro winkte ihnen zu warten. Aber natürlich! Die Vier haben Panzer an! Wie Insektenpanzer ... Er hob die Hände in der universellen Geste des Friedens. „Wir sind keine Feinde. Wir haben diese ... Traumsaat vernichtet, die euch angegriffen hat. Das hier sind Rüstungen, wie deine Schulterplatten, nur etwas ... größer und praktischer. Schau ...“ Er blickte zu Juro. „Klapp mal den Helm zurück.“
Juro zögerte einen Moment, doch dann versenkte sich mit einem leisen Zischen der Helm im Rückenteil der Rüstung und sein Gesicht mit einem gezwungenen Lächeln unter dem zerzausten Haar kam zum Vorschein. „Hi“, sagte er. „Schön, dass es dir besser geht.“
Doch statt sich zu beruhigen, richtete sich das Mädchen zu voller Größe auf und bauschte ihr Gefieder. „Ketzer!“, rief sie. „Gottlose Diadochen (Eigenname vermutet)! Wie könnt ihr es wagen, mich mit eurer lästerlichen Technik zu besudeln?“
Juro und Roland blickten sich ratlos an, verblüfft über die heftige Reaktion. „Das mag dir alles etwas seltsam vorkommen“, sagte Roland beschwichtigend, „aber ich versichere dir, wir wollen dir nichts Böses. Du warst verwundet und wir konnten dich ja schlecht einfach liegen ...“
Die erstaunlich tiefe und raue Stimme des geflügelten Kindes wurde leiser und eindringlicher. „Ich bin Zachiel, der Todesengel. Ich bin die Hand des Allmächtigen, die seinen gerechten Zorn über all jene bringt, die Seine Gebote missachten. Gebt mir mein Flammenschwert, kniet nieder und flehet um Gnade, dann wird Er euch vielleicht verschonen.“
Der Computer übersetzte. Roland betrachtete das Mädchen, sein trotzig vorgerecktes Kinn, das sich jetzt, wo sie auf dem Bett stand, in seiner Augenhöhe befand, ihre in einer herrischen Geste ausgestreckten Hand. Es hätte komisch sein können. Aber als Roland in ihre blitzenden dunklen Augen sah, fröstelte es ihn bis ins Mark. Es war nicht nur ihre irrsinnige Wahnvorstellung oder das Wissen um ihre erheblichen Körperkräfte. Einen Moment lang spürte Roland echte Angst. So müssen sich die Bewohner dieses Planeten fühlen, wenn sie dieses herrliche Wesen vor sich stehen sehen, schoss es ihm durch den Kopf.
„Das genügt“, brach Juro brüsk das Schweigen. „Alle raus!“

„Sie ist komplett durchgeknallt“, sagte Juro, als er sich neben Roland an dem Konferenztisch niederließ, an dem bereits Schwester Tari und Kapitän Smetana saßen. „Wer auch immer an ihrem Gehirn rumgefummelt hat, hat einmal kräftig daneben gelangt.“
Roland wiegte den Kopf und blickte Tari an. „Was ist ein Todesengel?“, fragte er. „Wisst Ihr was darüber, Schwester?“
Die junge Priesterin verzog den Mund. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie nur ungern über dieses Thema sprach. „Die Vorstellung von Engeln ist völlig abwegig und ketzerisch. Die Kirche des Einen hat sie schon vor langer Zeit ausgemerzt. Zumindest dachten wir das.“ Sie seufzte. „Es ist eine Schande, dass ein Planet gottesfürchtiger Menschen so lange ohne den Beistand einer Kirchenautorität geblieben ist.“
„Ja“, sagte Roland ungeduldig. „Aber was heißt ‚Engel‘? Wir müssen wissen, womit wir es hier zu tun haben, bei allem Respekt.“ Er sah zu Juro, doch der bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Der blöde Kerl hielt sich immer aus Streitereien mit der Priesterin heraus!
Tari seufzte noch einmal. „Es passt damit zusammen, dass dieses verwirrte Wesen Latein spricht. Die christlich-katholische Kirche und andere alte Religionen, die die Herrlichkeit des Einen noch nicht recht erkannt hatten, glaubten daran, dass Engel als geflügelte Boten Gottes vom Himmel herabstiegen, um in seinem Namen mit den Menschen zu sprechen. Ihr werdet verstehen, dass diese Vorstellung nicht nur völlig unsinnig, sondern auch gefährlich ist.“
„Hm“, brummte Roland. „Geflügelte Wesen mit übermenschlichen Kräften versuchen die Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, angeblich im Namen einer größeren Sache. Das klingt allerdings nach ganz etwas anderem.“
Schwester Tari sprach ein kurzes Gebet und bat den Einen um Erleuchtung. Roland murmelte automatisch mit, dann ergriff er gleich wieder das Wort. „Aber ... Zachiel ... ist kein Dämon, sondern ein Mensch. Ich glaube auch nicht, dass sie dämonisch besessen ist, sonst hätte sie in irgend einer Form auf die Schutzzeichen am Tank, in der Arrestzelle oder auf den Rüstungen reagiert. Ich habe sie beim Verarzten öfter hiermit berührt“, er ließ kurz die Hemdsärmel zurückrutschen und zeigte seine ledernen Handgelenksschoner, „ohne dass sie auch nur gezuckt hätte.“
„Das ändert aber nichts daran, dass sie sich als Boten Gottes ausgibt“, sagte Schwester Tari. „Das ist eine unglaubliche Ketzerei, und wenn es offenbar noch mehr von ihnen ...“
„Rund 20 000 Stück nach einer groben Schätzung“, sagte Bill, der gerade ins Besprechungszimmer gestapft kam.
Roland zog die Augenbrauen hoch und blickte vielsagend zu Juro hinüber. Wenn der Superhacker seinen Bau verlässt, muss es schon sehr wichtig sein.
„Wenn ihr ... äh, Sie mich fragen“, korrigierte sich Bill schnell, als ihm bewusst wurde, dass es hier eine offizielle Runde war, „sollten wir uns so schnell wie möglich davon machen. Ein Wunder, dass der ganze Planet noch nicht von Dämonen überrannt ist!“ Der dicke Mann ließ sich auf einen Stuhl fallen und stöpselte sich in den Tischcomputer ein.
„Moment noch.“ Juro wandte sich kurz ab und ordnete einen zusätzlichen Sicherheitstrupp mit Plasmawerfer zur Bewachung des Schiffs nach draußen. „Ok, Bill, was hast du rausgefunden?“
„Der Planet hier ist so im Arsch – Verzeihung, Schwester –, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Es war gar nicht so leicht, die Infos zu kriegen. Nicht, weil die mit Hackerangriffen rechnen, sondern weil die Technik so veraltet ist und die nicht mal selbst wissen, wie sie damit umgehen müssen.“
„Sicher hat es dich viel Mühe gekostet und wir sind dir dankbar“, sagte Juro. Roland erkannte die spezielle Vorgesetzten-Stimme seines Freundes, die er benutzte, wenn er eigentlich etwas anderes sagen wollte. Mach hinne!, zum Beispiel.
„Ja ... hm ... Das Wichtigste für uns ist wahrscheinlich, dass den Menschen hier Schutzzeichen völlig unbekannt sind und die Dämonen eigentlich ständig damit beschäftigt sind, Menschen zu infiltrieren oder zu töten“, sagte Bill.
„Beim Einen!“, entfuhr es Smetana. Sieh an, der ach so beherrschte Kapitän, konnte sich Roland den boshaften Gedanken nicht verkneifen, als der Mann schuldbewusst zu der Priesterin hinüber schielte. Doch es überlief ihn selbst eiskalt, wenn er daran dachte, dass diese Menschen tagtäglich schutzlos den Chaos-Kräften ausgeliefert waren.
„Genau“, sagte Bill und nickte Smetana zu. „Sie nennen die Dämonen hier ‚Traumsaat’ und glauben, sie kommen aus diesen brennenden Schneisen, die sich quer durchs Land ziehen. Diese Idioten wissen ja nicht, dass nur ein Knopfdruck am rechten Ort langen würde, und diese blöden Satteliten hören auf, alles in Schutt und Asche zu legen. Na ja, zum größten Teil scheinen das keine besonders mächtigen Dämonen zu sein, die sich für diesen hinterwäldlerischen Planeten interessieren. Sie könnten mit den Viechern leicht fertig werden – so wie wir –, wenn sie sich nicht selbst einen völlig blödsinnigen Technikbann auferlegt hätten. Bis auf ein paar Städte, die als Ketzernester verschrien sind, kämpfen die nur mit den einfachsten Waffen gegen die Dinger – und sterben.“
„Wie kommt es, dass sie überhaupt noch leben?“, fragte Smetana.
„Es sind die Engel, nicht wahr?“ In seiner Aufregung hatte Roland den Gedanken, der ihm durch den Kopf schoss, laut ausgesprochen. Als ihn die anderen anstarrten, ärgerte er sich gleich, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, ihn noch einmal näher zu betrachten, bevor er den Mund auftat. „Na ja“, stotterte er. „Ihre Aufgabe ist es, gegen die Dämonen zu kämpfen und die anderen Menschen zu beschützen. Und weil die Leute glauben, dass Gott ihnen seine eigenen Boten gesandt hat, sind sie nicht so anfällig für dämonische Einflüsterungen ...“
Vielleicht funktionieren unsere Schutzzeichen genauso. Sie wirken, weil wir alle dran glauben. Dieser letzte Gedanke war so blasphemisch, dass Roland ihn natürlich nicht aussprach. Er war nicht nur blasphemisch, sondern auch zutiefst erschreckend. Roland mochte seine Probleme mit manchen Kirchenlehren haben, doch die Wirksamkeit und Notwendigkeit der Schutzzeichen hatte für ihn immer außer Frage gestanden. Roland verdrängte den Gedanken in den hintersten Winkel seines Kopfes, wo er ihn hoffentlich niemals wiederfinden würde – geschweige denn sein dämonischer Besuch in Chaos-Nächten.
Schwester Taris Lippen wurden sehr schmal. „Es ist reiner Zufall, dass diese Ketzer noch nicht vom Chaos verschlungen worden sind“, sagte sie in kaltem Ton. „Wer weiß, von wem die so genannten ‚Gottesboten‘ ihre Anweisungen kriegen? Ein ganzer Planet ohne den Beistand des Einen und den Schutz der Kirche! Wir müssen umgehend die Flotte informieren, den nächsten Kirchenstützpunkt, am besten das nächste System mit einem Astropathen.“
„Ich werde die Funkbake vorbereiten lassen“, sagte der Kapitän. Roland warf einen Blick zu Juro, doch der nickte nur. Roland rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Tari mag Zaishens Novizin sein und tolerant bis zu einem gewissen Grad – aber sie glaubt nicht annähernd so stark an das Gute im Menschen. Da ist wieder der Punkt, an dem wir ihr nichts vormachen können und auf Stahl beißen ...
„Ja, zu den Engeln ...“, nahm Bill seine Ausführungen wieder auf. „Das ist überhaupt das Abgedrehteste. Die Welt wird beherrscht von der Kirche, ja? Also, nicht der Kirche des Einen natürlich, aber es gibt Priester und Messen und so weiter. Na ja, und obwohl sie den Einsatz von Technik verdammen, haben sie selbst die hochentwickelsten Geräte im Keller stehen. Nur ein ausgewählter Kreis weiß davon. Mit diesen biotechnischen Maschinen basteln sie sich nämlich ihre tollen Gottesboten zusammen. Da ziehen so ein paar Typen durch das Land und klauen Kinder, die ihnen die richtigen Voraussetzzungen zu haben scheinen. Die werden dann in die Maschine gesteckt, bekommen Fähigkeiten je nachdem, was gebraucht wird, ein Kämpfer, ein Heiler, ein Gelehrter. Sie löschen ihnen das Gedächtnis, trainieren sie ein bisschen und schicken sie mit der Überzeugung los, sie wären übermenschliche Wesen und ihr einziger Lebensinhalt, die Traumsaat umzubringen ...“
Juro und Smetana fluchten gleichzeitig los, Schwester Tari verlor völlig die Fassung und begann, unzusammenhängende Gebetsfragmente zu intonieren. Roland schlug mit den Fäusten auf den Tisch, während ein unbändiger Zorn in ihm brodelte. Dass er mit Kindern nicht konnte, bedeutete nicht, dass ihm egal war, was mit ihnen geschah. Kein Mensch hatte es verdient, so ausgenutzt zu werden! Diese feigen Hunde versteckten sich in ihrer Kirche und ließen Kinder mit Stöcken auf die Monster los! Während die echten Waffen irgendwo gebunkert wurden! Statt Erwachsene in den Kampf zu schicken, die im vollen Bewusstsein der Gefahren und Konsequenzen die Verantwortung übernahmen.
„Kannst du diese verfluchten Apparate abschalten, Bill?“, fragte Roland laut, als sich der Tumult ein wenig gelegt hatte. „Oder müssten sie zerstört werden?“
„Ich kann einen Virus einschleusen, der das ganze System lahm legt“, sagte Bill zögernd. „Oder vielmehr mehrere Viren, weil die Dinger nicht wirklich vernetzt sind. Reparieren kann das wahrscheinlich keiner. Die drücken nur Knöpfe ohne zu wissen, wie’s funktioniert. Wenn aber unsere ursprüngliche Idee war, mit unserer Ankunft keine Panik auszulösen, wär das natürlich das absolute Gegenteil.“
„Scheißegal“, sagte Juro, der ganz blass war vor Wut. „Tu’s sofort. Die werden an keinem einzigen Kind mehr rumpfuschen!“
„Du bist der Boss“, sagte Bill und bekam den glasigen Blick, der zeigte, dass er irgendwo in den Tiefen des Computersystems beschäftigt war.
Taris Stimme zitterte noch ein wenig, als sie wieder das Wort ergriff, doch ihr Blick war hart. „Ich bin zwar nur eine einfache Priesterin und der Eine weiß, dass ich mir nichts anmaßen will. Doch ich bin überzeugt, dass Seine Heiligkeit, Inozens der XXXVII., nach diesen Nachrichten einen Hochinquisitor mit einem Exterminatio-Befehl in dieses gottlose System entsenden wird.“
Stille senkte sich über den Kommandobunker. Nur langsam sickerten Taris Worte in Rolands Bewusstsein. Exterminatio: Die unwiderrufliche Zerstörung des gesamten Planeten. „Nein“, entfuhr es ihm. „Schwester, das kann nicht euer Ernst sein!“
„Mein Sohn, du kannst dir sicher sein, mir gefällt der Gedanke auch nicht“, sagte Tari. „Doch die Gesetze der Kirche sind eindeutig und die Strafen für einen Verstoß unerbittlich.“
Roland sah vor seinem inneren Auge, wie ein paar Bauern, die mit Pflugscharen ihr Feld beackerten, am Horizont die großen Schlachtschiffe heranziehen sehen würden. Noch bevor sie ahnen konnten, was sie da vor sich hatten, fiel die Bombe ... „Aber diese Menschen wissen es einfach nicht besser“, sprudelte es aus ihm heraus. „Da sind diese falschen Kirchen-Typen, ok, aber was ist mit den vielen Leuten, den Kindern, die nur versuchen, irgendwie zu überleben? Was ist mit den Engel-Kindern, die im besten Glauben den Dämonen entgegentreten? Wie könnt Ihr sie dafür bestrafen, dass sie ausgenutzt werden? Wenn man ihnen nur erklären könnte ...“
„Fanatische Ketzer, das zeigt sich doch allein an unserer Gefangenen“, beschied ihn Tari. „Ein jahrhundertealter Irrglaube lässt sich nicht so leicht korrigieren. Und erst recht nicht ignorieren. Die Gefahr für das Imperium ist zu groß.“
Roland hielt es nicht mehr auf dem Stuhl. „Das Imperium hat die Leute im Stich gelassen!“, brüllte er. „Toll, wir retten die Leute, indem wir sie umbringen! Dabei ist ihr Glaube nur eine andere Variante ...“
In diesem Moment rammte ihn Juro, der noch immer seine Rüstung trug, vor die Brust, dass Roland die Luft wegblieb, und drängte ihn vom Tisch weg. „Kein Wort mehr“, flüsterte Juro, die Augen weit aufgerissen. Seine Stimme klang fast flehend. „Roland, wenn du so weiter machst, müsste ich dich in Gewahrsam nehmen, und weil ich das nicht machen werde, müsste die Schwester auch mich absetzen, und der Exterminatio wird so oder so gegeben. Also geh bitte einfach in dein Quartier, ok?“
Roland rieb sich das Brustbein und wandte sich zur Tür. „Was wird mit Zachiel?“, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Tari, die die letzte Frage gehört hatte, rieb sich stöhnend die Schläfen. „Ich werde mich morgen mit ihr unterhalten und ihr anbieten, sich uns anzuschließen – sofern sie die Wahrheit akzeptiert. Aber ich fürchte, es wird darauf hinaus laufen, dass wir sie als Ketzerin hinrichten lassen müssen.“
Roland schnaubte. „Statt sie auf einen Planeten zurückzuschicken, der ohnehin dem Untergang geweiht ist, meint Ihr?“
Tari starrte ihn wütend an. „Jeder Ketzer, der frei herumläuft, ist einer zu viel.“
Roland öffnete den Mund, doch Juro schnitt ihm barsch das Wort ab: „Geh bitte!“

Seit Stunden versuchte Zachiel erfolglos zu meditieren. Sie wandte alle Kniffe an, die sie seit ihrer Ausbildung im Himmel kannte, doch sie fand einfach keine Ruhe. Wie auch, in diesem unnatürlichen Kasten! Sie hatte sich immer über Tamaels Vorliebe für das Schlafen unter freiem Himmel lustig gemacht, doch in diesem Gefängnis litt sie darunter, so völlig von Gottes Schöpfung abgeschnitten zu sein. Wo war sie überhaupt? Wie viel Zeit war vergangen seit dem Kampf. Dem Kampf ...
Wie demütigend!, dachte Zachiel, während sie mit geschlossenen Augen auf ihren Fersen hockte. Sie würde diesen verdammten Ketzern nicht die Befriedigung geben, sich ihre Nervosität anmerken zu lassen. Sie haben mir meine Seele fortgenommen. Mein Flammenschwert in unreinen Händen! Ich, eine Gabrielitin, ohne Waffen und ohne Kraft, diese Zelle zu sprengen! Sie halten mich in einem Stall wie eine Kuh, statt sich mir in einem ehrlichen Kampf zu stellen!
Selbst wenn – wer sagt, dass du gewinnen würdest?, flüsterte eine bösartige Stimme in ihrem Innern, die sie noch nie zuvor vernommen hatte. Es stimmte, Zachiel hatte noch niemals solche Technik gesehen, sich nicht mal in ihren schlimmsten Befürchtungen ausmalen können, dass es so etwas gab wie das, was diese Ketzer einsetzten. Ob Veruel etwas darüber hätte sagen können?
Zachiel merkte, dass ihre Flügel leicht zitterten, und biss die Zähne grimmig aufeinander. Ich kann gewinnen. Der Glaube ist meine Waffe und mein Schild, ich bin das Schwert des Allmächtigen. Als sie verletzt und verwirrt am Boden gelegen hatte, das Schwert ihrem Griff entglitten war und sich ein dunkler Schleier über alles senkte, hatte sie geglaubt, die Macht Gottes zu sehen, die ihrer Schar in der dunkelsten Stunde beistand. Blitze, die die Traumsaat niederstreckten. Doch warum hatte sie der Schöpfer in die Hände der Ungläubigen fallen lassen?
Oh Herr, du tust recht daran, mich zu strafen, betete Zachiel stumm. Ich habe versagt. Es war meine Aufgabe als beste Kämpferin, die Schwächsten meiner Schar zu schützen. Rodunel, Veruel. Doch sie sind zu dir heim gekehrt, Herr, bevor sie Deinen Auftrag erfüllen konnten, und das ist meine Schuld. Zürne ihnen nicht, mein Gott, sie treten vor dich in dem reinen Gewissen, alles in ihrer Macht stehende getan zu haben. Wenn du mich prüfen willst, so soll es geschehen. Alles, worum ich dich bitte, ist ein kleines Zeichen.
Bevor sie es verhindern konnte, entrang Zachiel ein Schluchzen. Das sterbliche Gefäß ihrer Seele spielte ihr einen Streich und trübte ihren Blick. Doch die Leere in ihrem Innern schmerzte so, stärker als jede Wunde, die sie je empfangen hatte. Diese Leere, wo die tröstende Gegenwart von Siguriel aus ihrer Brust gerissen worden war, als er fiel, durchbohrt von den Zähnen dieser dämonischen Kreatur. Du dummer Kerl! Zachiel schluckte ein zweites Schluchzen hinunter. Seit ihrer Engelsweihe waren sie eine Schar gewesen, Einer in Fünf, eine sich ergänzende Einheit. Trotz ihrer kleinen Streitigkeiten, trotz der kleinen Unzulänglichkeiten, über die sie sich bei den anderen geärgert hatte ... Oh Stolz, oh Sünde!
War Tamael ebenfalls zum göttlichen Vater heimgekehrt? Wieso blieb sie als einzige zurück, allein und als leuchtendes Signal ihrer Schande? Sie hätte mit ihrer Schar gemeinsam dem irdischen Jammertal den Rücken zukehren und in die Ewigkeit eingehen sollen, doch diese Ketzer hatten sie darum betrogen ... Selbst Gott hatte sie verlassen ...
Als die Tür plötzlich aufzischte, sprang Zachiel auf, wischte sich schnell über die Augen und stellte sich der Kreatur entgegen, die hereinkam.

Roland hatte sich noch nie in seinem Leben so hilflos gefühlt wie in diesem Moment, als er durch die Gänge der ‚Lans‘ zu seinem Quartier stampfte. Es ist ungerecht. Sie werden alle sterben, dabei sind sie nur Opfer! Die Dämonen bedrängen sie, die eigene Kirche gängelt sie, sie haben null Ahnung, was in der Galaxie vorgeht, aber wir werden sie umbringen! Und egal, was er sagte oder tat, er konnte höchstens sich selbst noch ans Messer liefern. Es hatte nicht mal Sinn, jemanden zu warnen – wohin sollten die Menschen fliehen, wenn der ganze Planet unterging?
Nicht einmal Zachiel konnte er retten. Nie im Leben würde Tari ihr die Zeit einräumen, die sie brauchen würde, um die Wahrheit zu akzeptieren.
Roland blieb mit einem Mal mitten im Gang stehen. Nein ... Retten konnte er Zachiel nicht. Aber er konnte wenigstens etwas für sie tun.
Er fuhr seine Rüstung nur in den fundamentalsten Betriebsmodus. Kein Funk. Natürlich würde Juros taktisches System ihn finden können, aber nur, wenn der Sicherheitschef ihn bewusst suchte. Und der war mit Bill, Tari und Smetana noch im Kommandobunker beschäftigt.
Vor der Arrestzelle stand mittlerweile ein neuer Posten – zum Glück keiner, der Zachiels letzten Auftritt mitbekommen hatte. „Ich muss noch einmal nach der Patientin sehen“, sagte Roland im Vorbeigehen und deaktivierte beim Türöffnen ganz selbstverständlich die Bild- und Tonübertragung. Esau nickte nur. „Sir.“
Als er Zachiels rote Augen sah, die ihn trotzig anstarrten, wurde Roland wieder bewusst, dass sie letztlich ein Kind war. Ein Kind, dem man erst die Mutter weggenommen hatte und jetzt auch noch die einzigen Freunde. Sie mochte eine großartige Kämpferin sein und sich für ein übermenschliches Wesen halten, aber sie war gefangen und einsam. Beim Einen! Wie sollte ich ihr überhaupt die Wahrheit sagen? Ihr Glaube ist alles, was sie noch hat!
Im nächsten Moment war Zachiel plötzlich über ihm und schlug ihm hart auf die ungeschützte Nase, bevor sie mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn krachte. Automatisch aktivierten sich die Magnethalterungen und hielten die Rüstung aufrecht. Bevor das Mädchen einen weiteren Treffer landen konnte, schleuderte sie Roland mit einer Armbewegung von sich, die Augen blind vor Tränen, und stoppte den Hilferuf, den das System aussenden wollte. Zum Glück war seine Rüstung nicht so ein vollautomatischer Kampfapparat wie Juros.
Als er gerade die Tränen wegblinzelte, hörte er das Rauschen ihrer Schwingen. Auch wenn sie sie in der engen Zelle nicht richtig einsetzen konnte, genügte ihr der Spielraum, um sich mit Schwung auf seine Kopfhöhe zu katapultieren. Gerade noch schaffte es Roland, das Visier zu schließen, als ihr zweiter Schlag kam. Es krachte ganz ordentlich. Das musste weh getan haben, doch Zachiel ließ keinen Schmerzenslaut hören.
So geht das nicht. Roland versuchte, die Handgelenke des Mädchens zu packen, doch sie war wirklich verdammt schnell. Also umschlang er sie mit beiden Armen und warf sich nach vorn, um sie auf dem Boden festzunageln. Die Flügel federten die Wucht ab und peitschten weiter auf ihn ein, doch das spürte Roland in seiner Rüstung kaum. „Übersetzung aktivieren“, zischte er. „Rüstungslautsprecher.“ Gleich darauf hörte er, wie die Computerstimme seine Worte auf Latein nach außen trug. „Zachiel, hör auf, du wirst dich nur verletzten.“
Jetzt schrie sie auf, voller Wut, und stemmte sich gegen seinen Griff. „Dein Kämpferherz in allen Ehren, aber gegen diese Technik kommst du nicht an“, sagte Roland. Gut, dass du dich entschieden hast, ihr nicht noch einmal ungerüstet gegenüber zu treten. „Ich bin nicht gekommen, um dir weh zu tun. Hör auf und wir verhandeln.“
Sie knurrte und der Computer übersetzte. „Ich verhandle nicht mit Ketzern. Töte mich, du Feigling, und mach dieser unwürdigen Posse ein Ende!“
„Ja, toll, ich bin ein Ketzer, schön, dass wir das geklärt haben.“ Es war nicht weiter anstrengend, sie am Boden festzuhalten, aber Rolands Nase begann schmerzhaft zu pochen und Blut verschmierte von innen sein Visier. „Aber ich bin der einzige, der dich hier rausholen kann. Allerdings nur, wenn du aufhörst, unsere knappe Zeit mit Kämpfen zu vergeuden!“
Ihr Gesicht war mittlerweile rot vor Anstrengung, doch ihr Atem blieb ruhig. „Ich verhandle nicht. Was immer du als Gegenleistung willst, du wirst es nicht kriegen!“
„Ich will keine Gegenleistung. Ich will nur, dass du dich ruhig verhältst, bis wir draußen sind. Dann kriegst du dein Schwert wieder und darfst gehen, wohin du willst.“
„Lügner!“ Zachiels Widerstand wurde nicht wirklich schwächer, doch Roland merkte, dass er ihre Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Und dass sie nur halbherzig auf ihn schimpfte. Die Möglichkeit, dass ich sie anlüge, existiert für sie nur theoretisch, ging es Roland auf. Gottes Boten werden nicht angelogen.
„Ich lüge nicht. Ich werde mit dir hier raus marschieren und du wirst davonfliegen. Wenn du jemanden angreifst, werden sie dich töten. Wenn du mit Verstärkung wiederkommst, werden sie euch alle töten. Du hast unsere Waffen gesehen und weißt, dass wir das können. Aber ich verspreche dir, dass wir in spätestens zwei Tagen verschwunden sein werden und du siehst uns nie wieder.“ Rolands Stimme brach, doch das konnte das Mädchen nicht hören. Nein, uns siehst du nicht wieder. Und wenn du Glück hast, siehst du auch die anderen nicht, bevor sie dich töten ...
Zachiel lag still. Nach einer Weile sagte sie: „Es ist meine Aufgabe, die Gotteslästerer vom Angesicht der Erde zu tilgen. Wenn ich dabei sterbe, ist das nur meine Hülle. Ich selbst kehre heim zum himmlischen Vater.“
„Ich hab dich nicht zusammengeflickt, damit du dich in einer Selbstmordaktion opferst. Die Menschen auf dieser Welt brauchen dich.“ Verdammt. Es macht eigentlich keinen Unterschied. Ich helfe niemandem damit, außer meinem eigenen Gewissen. Und noch nicht mal dem. Ob sie geht oder bleibt, sie wird sicher sterben.
Roland konnte nur erahnen, welche widerstreitenden Gefühle in Zachiel tobten, während er sie weiter am Boden festhielt und dankbar war, dass ihn niemand so sehen konnte. „Zachiel ... Weißt du eigentlich ... Hast du nicht manchmal Träume? Träume, die dir Bilder zeigen, die nicht wahr sein können? Hörst du manchmal ... ich weiß nicht, eine Frau, die liebevoll zu dir spricht? Aber sie nennt einen anderen Namen?“
Ihr Körper versteifte sich, als hätte er etwas in ihr angerührt. Doch als sie endlich den Mund aufmachte, wechselte sie zu Rolands Enttäuschung und Erleichterung das Thema.
„Wie heißt du?“, fragte sie.
„Roland.“
„Roland. Wenn du deinem frevelhaften Technikwahn abschwören kannst, sehe ich noch Rettung für dich.“
Er musste gegen seinen Willen lachen, was der Computer zum Glück nicht weitertrug. Sie hätte es nicht verstanden. Ich und Technikwahn! „Danke. Schwörst du mir, dass du auf dem Weg nach draußen nichts sagen, nichts anfassen und niemanden angreifen wirst, egal, wie viel Ketzerei du zu Gesicht bekommst?“
„Gott möge mir vergeben, aber ich schwöre es.“
Roland stand auf, ließ Helm und Handschuhe zurückfahren und betastete vorsichtig seine Nase, während Zachiel sich mit ihren Flügeln arrangierte. Er wusste es besser als ihr Hilfe anzubieten und sie sah kein bisschen schuldbewusst aus. Roland wischte sich schnell das Blut aus dem Gesicht und sprühte Eisspray dahin, wo ihm bald ein unförmiger Klumpen im Gesicht hängen würde. Aber mit etwas Glück würde das erst einmal nicht auffallen. Wenn er mit geschlossenem Visier hier raus marschierte, würde er größeres Misstrauen erwecken. Er drückte auf den internen Kommunikationsknopf der Zelle. „Esau, kannst du mir schnell etwas aus der Krankenstation holen?“
„Sir, ich weiß nicht, ob ich meinen Posten ...“
„Bitte, ich hab doch keine Sanitäter an Bord.“ Roland nannte den Namen eines Mittels, von dem er wusste, dass Esau eine Weile suchen musste, um es im Medikamentenschrank zu finden. Dass der Posten sein Zögern so schnell aufgab, bestätigte Rolands Vermutung, dass Zachiel zumindest im Moment noch offiziell als Patient und nicht als Gefangene galt. „Beeil dich!“
Sie begegneten niemandem in den Gängen. Obwohl Zachiel ihre Flügel erstaunlich eng an den Körper falten konnte, ging Roland voraus, hielt sich jedoch bereit, dem Mädchen in den Arm zu fallen, sollte irgendetwas ihr Temperament hochkochen lassen. Ihre Miene zeigte eine Mischung aus Neugierde und Abscheu, doch sie starrte steif geradeaus und hielt mühelos mit ihm Schritt.
An der Hauptschleuse hatte ebenfalls ein Schichtwechsel stattgefunden. Roland nickte den vier Gerüsteten zu. „Unser Gast verlässt uns wieder“, sagte er leichthin.
„Äh ... Sir, wir haben keine entsprechende Anweisung von Kommandant Smith bekommen“, sagte Raven, der Ranghöchste. Seine Augen unter dem geöffneten Visier huschten unsicher zu Zachiel, die stumm hinter Roland stehen geblieben war.
„Natürlich habt ihr das nicht“, sagte Roland. „Weil Juro weiß, dass ich sie hinaus begleite.“
„Ich werde trotzdem noch einmal kurz rückfragen, Sir.“
Roland trat einen Schritt näher und starrte Raven in die Augen. „Juro ist in einer Besprechung. Natürlich kannst du gerne versuchen, ihn zu erreichen, aber bis du das geschafft hast, lässt du mich gefälligst vorbei!“
Raven stand die Unsicherheit geradezu ins Gesicht geschrieben. Natürlich war Juro der Befehlshaber dieser Mission und Roland vor allem für die medizinische Betreuung an Bord. Doch jeder wusste, dass die beiden ein eingespieltes Team, auf gut Imperial: ein Kopf und ein Arsch waren. Oft genug sprach der eine für den anderen. Und das nutze ich jetzt voll aus, dachte Roland und hoffte, dass sich sein inneres Dilemma nicht in seinen Augen widerspiegelte. Juro, es tut mir leid. Aber ich muss das tun. Sein Freund mochte ihn hinterher einsperren, anklagen ... Nein, das würde Juro nicht tun. Freundschaft zählte für ihn immer noch mehr als Gesetze. Bin ich deshalb so dreist, weil ich weiß, dass er eher seinen eigenen Kopf hinhält, als mich auszuliefern? Nein, das wird nicht passieren, schwor sich Roland. Ich werde selbst für das hier gerade stehen, und wenn ich Juro dafür k.o. schlagen muss!
Raven brach den Blickkontakt und trat zur Seite. „Zu Befehl, Sir.“
„Hauptschleuse öffnen!“, befahl Roland dem Computer. Er hörte, wie Raven seinen Helm schloss, um die Kommunikation aufzubauen. Sie mussten sich beeilen.
Als Roland und Zachiel auf die Rampe traten, drehten sich einige der Schutztruppen zu ihnen um und erstarrten. Nicht viele hatten mitgekriegt, wie der Engel an Bord gebracht worden war. Ohne inne zu halten, stapfte Roland die Rampe hinunter und dicht an dem Plasmawerfer vorbei. Er spürte, wie sich Zachiel anspannte, bereit, auf jede Art von Angriff zu reagieren. Er drehte sich im Gehen mit einem gezwungenen Lächeln zu ihr herum. „Dort drüben sind die Hügel, wo der Kampf stattgefunden hat“, sagte er laut. Noch ein paar Meter ...
„Sir, gehen Sie nicht ...“, setzte ein Schütze an.
„Nein, ich bin hier, keine Sorge“, rief Roland über die Schulter zurück.
Knapp außerhalb des Scheinwerferkreises blieb Roland stehen, klinkte die schmale Transportbox von seiner Rüstung aus, öffnete sie und hielt sie Zachiel entgegen. „Deine Kleidung und dein Gürtel waren leider total hinüber“, sagte er leise und diesmal war froh, dass sie diesmal seinen Tonfall hören konnte und nicht nur die Computerstimme. „Aber ich hab die Schwerthalterung aufgehoben, den Dolch, diese Bänder ... und natürlich das hier.“
Zachiel hängte sich alles um, dann zögerte sie einen Moment, bevor sie als letztes nach dem ausgeschalteten Plasmaschwert griff. Es streichelte, wie eine Mutter ihr Kind streichelt. Die Klinge flammte auf und Roland wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Hinter sich hörte er Rufe. Im Schein der unregelmäßigen Flamme wirkte Zachiels Gesicht älter, streng und erhaben. Das Gesicht des Todesengels. „Roland“, sagte sie. „Es gibt Hoffnung für dich.“
Dann drehte sie sich um. Der Windstoß ließ Roland blinzeln, als sie sich vom Boden abstieß und mit ihren mächtigen Flügeln schlug. Er wandte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Plasmawerfer in Position gebracht wurde. „Nein!“, rief er, sprintete die wenigen Schritte zurück und packte das Rohr der Waffe. Es schwenkte herum und Roland verlor den Bodenkontakt.
„Sir, lassen Sie los! Wir haben Befehl ...“
Zwei Posten zerrten an seinen Beinen, Rolands Griff rutschte ab und er taumelte, um auf den Beinen zu bleiben. Doch die kurze Verzögerung hatte genügt. Und inmitten des ganzen kommenden Ärgers wusste Roland, dass er diesen Anblick nie würde missen wollen: Das Bild eines Engels, der mit weit ausgebreiteten Schwingen in die Dunkelheit entschwand.


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